Theologe spricht über Nahtod-Erfahrungen

Mensch geht durch Tunnel auf ein Licht zu
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"Indizien deuteten darauf hin, dass es nach dem Tod weitergeht", sagt der Theologe Werner Thiede im Interview.
Leben nach dem Tod?
Theologe spricht über Nahtod-Erfahrungen
Der Theologe Werner Thiede beschäftigt sich schon lange mit dem Thema Nahtod-Erfahrungen. Zwar habe die wissenschaftliche Forschung bisher keinen Beweis für ein Leben nach dem Tod gefunden, Indizien deuteten aber darauf hin, dass es nach dem Tod weitergehe.

Das sagte Thiede im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu erzeugten "auch bei vielen Atheisten eine gewisse Nachdenklichkeit, und das zurecht". Thiede ist außerplanmäßiger Professor für Systematische Theologie an der Uni Erlangen-Nürnberg und Pfarrer im Ruhestand.

epd: Herr Thiede, kann uns die Forschung zu Nahtod-Erfahrungen die Frage nach einem Leben nach dem Tod beantworten?

Thiede: Die internationale Nahtod-Forschung ist sich weithin einig darin, dass man nicht von einem Beweis für das Leben nach dem Tod sprechen kann. Es gibt aber durchaus Indizien, die in die Richtung deuten, dass es nach dem Tod weitergeht. Der Psychiater Bruce Greyson schreibt in seinem neuesten Buch "Nahtod" nach Jahrzehnten einschlägiger Forschung sinngemäß, dass bei seriösem wissenschaftlichem Hinsehen doch sehr viel für ein Überleben des Todes spricht. Und das bedeutet: Auch in unserer stark verweltlichten Kultur wäre die pauschale Annahme unzutreffend, dass die Religionen veraltet wären und jede Hoffnung über das Leben hinaus gleichsam dem Mittelalter zuzuordnen seien.

Es gibt aber doch nach wie vor auch die Position, es handle sich bei Nahtod-Erfahrungen nur um Halluzinationen?

Thiede: Selbstverständlich. Die Psychologin Susan Blackmore etwa hat viel darüber geschrieben, dass man Nahtoderlebnisse auch "materialistisch" deuten könne, als Einfluss von Sauerstoffmangel im Gehirn oder von körpereigenen Morphinen, sogenannten Endorphinen. Die können tatsächlich Erlebnisse erzeugen, die beispielsweise mit LSD-Erfahrungen verwandt sind. Aber es gibt eben auch genügend Indizien, dass da doch mehr im Gange ist.

"Es gibt genügend Indizien, dass da doch mehr im Gange ist."

Welche Indizien sprechen dafür, dass Nahtod-Erfahrungen mehr sind als Hirngespinste?

Thiede: Zum Beispiel legen viele aus dem "klinischen Tod" Zurückgekehrte ein erstaunliches Wissen an den Tag, das sie auf normalem Weg eigentlich nicht haben könnten. So werden Begegnungen mit abholenden Verwandten und Freunden auf der Grenzlinie interessanterweise immer nur mit solchen gemacht, die tatsächlich bereits verstorben waren. In mehreren Fällen war nicht einmal bekannt, dass die Betreffenden schon gestorben waren. Das gehört zu den eindrucksvollsten Phänomenen auf diesem Gebiet.

Die rein naturwissenschaftlichen Erklärungen überzeugen Sie also nicht?

Thiede: Man sollte Nahtod-Erfahrungen nicht materialistisch plattreden. Ich behaupte nicht, dass es einen Beweis für ein Leben nach dem Tod gibt. Aber kann es hier überhaupt um Beweise gehen? Ich denke vielmehr, dass Gott unser Leben und die ganze Welt so angelegt hat, dass es am Ende aufs Herz ankommt, auf Glauben, auf Vertrauen, nicht auf mathematische oder physikalische Beweise. Und dennoch erzeugen die Erkenntnisse der Wissenschaft auf diesem Gebiet auch bei vielen Atheisten eine gewisse Nachdenklichkeit, und das zurecht.

"Man sollte Nahtod-Erfahrungen nicht materialistisch plattreden."

Wann hat Ihr Interesse für Nahtod-Erfahrungen begonnen?

Thiede: Schon vor einem halben Jahrhundert. Besonders einschneidend war für mich die Übersetzung des internationalen Bestsellers "Life after Life" von Raymond Moody ins Deutsche - 1977 unter dem Titel "Leben nach dem Tod". Moody war Arzt und Philosoph und hat erstmals auf etwas breiterer Grundlage Nahtod-Erlebnisse miteinander verglichen. Dabei hat er festgestellt, dass immer wieder recht ähnliche Grundelemente vorkommen - in den verschiedensten Altersstufen, Regionen, Epochen und so weiter. Sein Buch hat mich damals im Theologie-Studium sehr fasziniert, weil die Themenfelder Tod, Jenseits und Auferstehung natürlich eine entscheidende Frage darstellt. Ich habe mich dann jahrelang intensiv mit der Thematik befasst, unter anderem am Institut für Parapsychologie in Freiburg.

Werner Thiede ist außerplanmäßiger Professor für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg und Pfarrer der bayerischen Landeskirche im Ruhestand.

Was geschieht nach dem Tod mit denjenigen, die nicht an Jesus glauben, womöglich nicht mal von ihm gehört haben?

Thiede: Da gibt es in der Theologie und in den verschiedenen Konfessionen der Christenheit unterschiedliche Auskünfte. Im Neuen Testament macht der 1. Petrusbrief (3,10-21 und 4,6) deutlich, dass das Evangelium von Jesus Christus auch im Bereich der Toten präsent ist. Für die moderne Theologie auf katholischer Seite greife ich hier nur einmal eine Position des verstorbenen Jesuiten Ladislaus Boros heraus: Seiner einflussreichen "Endentscheidungshypothese" zufolge wird jeder Mensch im Tod vor die ganze Wahrheit gestellt, was ihn ermächtigt, sich endgültig für oder gegen Gott und seinen Sohn Jesus zu entscheiden. Mein Einwand von evangelischer Seite lautet hier: Wenn ein Mensch in diese letztgültige Entscheidung angesichts der ihm vollends aufgehenden Wahrheit gestellt ist, dann wird das die wunderbare, faszinierende Wahrheit der göttlichen Liebe sein, eine Wahrheit, die ausdrückt, was ja auch im Neuen Testament steht: "Gott will, dass alle Menschen gerettet werden."

Sprich, ich hätte zwar theoretisch die Möglichkeit, mich gegen die offenbar gewordene Wahrheit zu entscheiden, aber praktisch werde ich es niemals tun?

Thiede: Genau. Der große Schweizer Theologe Karl Barth hat das mal auf die sinnige Formel gebracht: Es gibt die Hölle, aber sie steht seit Jesus Christus leer.

Machen deshalb fast alle Menschen in etwa dieselben Nahtod-Erfahrungen durch?

Thiede: Schon 1978 haben die Parapsychologen Karlis Osis und Erlendur Haraldsson herausgefunden, dass diese Grenzerfahrungen meist kulturelle Prägungen aufweisen. Menschen aus Indien beispielsweise schildern gern Begegnungen mit den indischen Totengöttern. Katholiken sehen die Gottesmutter Maria auf sich zukommen. Es sind also offenbar kulturelle und zugleich auch individuelle Einflüsse wirksam, was ja nicht erstaunlich ist. Denn die Visionen in unmittelbarer Todesnähe finden immer noch von einem Gehirn aus statt, das oder so lebt.

"Es sind also offenbar kulturelle und zugleich individuelle Einflüsse wirksam"

Das würde bedeuten, in Nahtod-Erlebnissen bekommen Menschen nur einen Vorgeschmack aufs Jenseits, quasi einen 'Sneak Preview'?

Thiede: Der dänische Theologe Hans Larsen Martensen beschreibt Nahtod-Erlebnisse in einem Buch, das auch so heißt, als "Schimmer durch den Vorhang". Das halte ich für einen sehr guten Titel, weil er zum Ausdruck bringt, dass das, was in den Visionen gesehen wird, doch etwas noch Vorläufiges ist, etwas Unvollkommenes, irgendwie Durchmischtes. Viele Reanimierte berichten demgemäß, dass sie in ihren Nahtod-Erfahrungen an bildlich ausgedrückte Grenzen kamen, etwa an ein Flussufer oder vor ein geschlossenes Tor, durch dessen Ritzen sie herrliches Licht und wunderschöne Musik wahrnehmen konnten, aber die Grenze blieb bestehen, und sie mussten wieder zurück. Wobei übrigens die meisten gar nicht mehr zurück wollten!

Die meisten Menschen, die von Nahtod-Erfahrungen berichten, schildern diese als etwas Positives, Beglückendes. Es gibt aber auch welche, die negative, höllenartige Erlebnisse schildern?

Thiede: Statistisch gesehen enthält ungefähr jedes fünfte Nahtod-Erlebnis negative Elemente, wobei sich mitunter auch Kombinationen ergeben. Es kann also sein, dass jemand ein sehr negatives Erlebnis durchmacht, eine schreckliche Jenseits-Vision hat, das Ganze dann aber übergeht in eine paradiesisch-schöne Vision, wie sie die meisten erfahren.

Hatten Sie selbst schon eine Nahtod-Erfahrung?

Thiede: Nein. Ich bin ein vergleichender Forscher auf diesem Gebiet wie viele andere Autoren auch. Das ist vielleicht sogar eine bessere Voraussetzung für die Forschungsarbeit. Denn eigenes Erleben könnte einen in eine bestimmte, subjektive Richtung drängen. Als Wissenschaftler kann ich einfach neugierig auf das Thema schauen, ohne durch eigenes Erleben irgendwie voreingenommen zu sein. Und das ist genau mein Zugang: Ich war und bin einfach als Mensch, Theologe und Publizist neugierig.