Missbrauchsgutachten belastet Benedikt XVI.

Missbrauchsgutachten belastet Benedikt XVI.
Das Gutachten zu Missbrauchsfällen im Erzbistum München zeigt Fehlverhalten der verantwortlichen Kleriker. Die Münchner Anwälte beleuchten auch die Rolle des früheren Münchner Erzbischofs Joseph Ratzinger, dem emeritierten Papst Benedikt XVI..
20.01.2022
epd
Von Christiane Ried und Franziska Hein (epd)

München (epd). Ein unabhängiges Gutachten zu Missbrauchsfällen im katholischen Erzbistum München und Freising erhebt den Vorwurf des Fehlverhaltens gegen den emeritierten Papst Benedikt XVI. in vier Fällen. In einem Fall geht es um einen katholischen Priester aus dem Bistum Essen, der 1980 ins Erzbistum kam und der zuvor als Missbrauchstäter aufgefallen war. Joseph Ratzinger - von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising - soll von dieser Vergangenheit gewusst, aber nicht verhindert haben, dass dieser Priester weiterhin in der Seelsorge tätig war und etwa auch Umgang mit Kindern hatte. Dazu erstellte die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl ein 370 Seiten umfassendes Sondergutachten. Benedikt XVI., mit bürgerlichem Namen Ratzinger, weist die Vorwürfe in einer 82-seitigen Stellungnahme, die im Gutachten im Wortlaut veröffentlicht ist, zurück.

Zwei weitere Fälle betreffen von staatlichen Gerichten verurteilte Missbrauchstäter, die als Priester weiter in der Seelsorge tätig sein durften, wie der Rechtsanwalt Martin Pusch mitteilte. In einem weiteren Fall soll ein Priester aus dem Ausland in den Dienst des Erzbistums übernommen worden sein, obwohl er im Ausland einschlägig verurteilt worden war. Aus den Akten gehe hervor, dass Ratzinger von der Vorgeschichte des Priesters gewusst habe, sagte Pusch.

Rechtsanwalt Ulrich Wastl schilderte den wohl bekanntesten Fall aus Ratzingers Amtszeit, der des Essener Priesters. Lange habe es die Mär gegeben, dass es nach dem Missbrauchsvorfall in seinem Heimatbistum keine weiteren Fälle gegeben habe, sagte Wastl.

In diesem Fall ermittelten die Gutachter weitere Opfer. Sie hätten Hinweise gefunden, dass es nach der Übernahme des Priesters weitere Taten gegeben habe. Wastl äußerte Zweifel an den Darstellungen Ratzingers aus der schriftlichen Stellungnahme, er sei in einer Sitzung, in der die Entscheidung über die Übernahme des Priesters nachweislich getroffen wurde, nicht anwesend gewesen. Ratzinger hatte das in seiner Stellungnahme behauptet, das Sitzungsprotokoll widerlege dies, sagte Wastl und zitierte aus dem Protokoll.

Insgesamt hätten sich in dem Gutachten Hinweise auf mindestens 497 Betroffene sexualisierter Gewalt zwischen den Jahren 1945 und 2019 gefunden, teilten die Rechtsanwälte mit. 247 Opfer seien männlich und 182 Opfer weiblich gewesen. Bei 68 Fällen sei eine Zuordnung wegen der Anonymität der Hinweise nicht möglich gewesen, sagte Rechtsanwalt Martin Pusch. Als „Bilanz des Schreckens“ bezeichneten die Gutachter die Ergebnisse ihrer Untersuchung.

60 Prozent der betroffenen Jungen waren zwischen acht und 14 Jahre alt. Damit bestätige sich, dass die Opfer sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche überwiegend männliche Kinder und Jugendliche gewesen seien. Pusch betonte, die Zahlen deckten nur das sogenannte Hellfeld ab. Die Kanzlei geht von einem weitaus größeren Dunkelfeld aus. Gegenstand der Untersuchungen seien mit Blick auf die Täter insgesamt 261 Personen gewesen, bei 235 hätten sich die Hinweise auf „untersuchungsgegenständliche Verhaltensweisen“ ergeben. Von ihnen seien 173 Priester gewesen.

Dem amtierenden Erzbischof Reinhard Marx bescheinigten die Gutachter eine „grundsätzliche Offenheit“ bei der Frage der Aufklärung des sexuellen Missbrauchs. Aber er habe sich auch darauf beschränkt, die ihm von seiner Verwaltung vorgeschlagenen Maßnahmen durchzusetzen, kritisierte Rechtsanwalt Pusch. Die Verantwortung dürfe bei solch einer Thematik aber nicht an Untergeordnete abgeschoben werden, dies sei „Chefsache“. Rechtsanwältin Marion Westpfahl kritisierte zudem, dass Marx nicht persönlich zu der Präsentation erschienen war. Marx wollte sich am Nachmittag in einem Statement äußern.