Staat muss Menschen mit Behinderung bei Triage besser schützen

Staat muss Menschen mit Behinderung bei Triage besser schützen
In der Pandemie könnten Intensivstationen an ihre Grenzen stoßen. Dann kommt es zur Triage, Patienten werden nach Aussicht auf Erfolg ausgewählt. Menschen mit Behinderung müssten dann besonders geschützt werden, entscheidet das Verfassungsgericht.

Karlsruhe, Berlin (epd). Menschen mit Behinderung müssen bei einer Knappheit an Betten und Personal auf Intensivstationen besonders geschützt werden. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat den Gesetzgeber am Dienstag beauftragt, „unverzüglich“ Vorkehrungen für eine sogenannte Triage zu treffen, damit sie bei einer Auswahl von Patienten nicht benachteiligt werden (AZ: 1 BvR 1541/20). Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sprach von einer „Handlungspflicht“ und kündigte an, „zügig“ einen Gesetzentwurf vorzulegen.

„Der Gesetzgeber darf es nicht mehr den medizinischen Fachgesellschaften überlassen, Leitlinien für den Fall einer Triage aufzustellen“, erklärte der Minister. Nun würden „die verschiedenen gesetzgeberischen Optionen schnell und sorgfältig“ analysiert und zügig dem Bundestag ein Gesetzentwurf vorgelegt. Dabei seien rein prozedurale Regelungen ebenso denkbar wie konkrete substanzielle Vorgaben.

Zugleich werde sich die Regierung weiterhin als erstes Ziel darum bemühen, dass es gar nicht erst zu einer Triage-Situation komme, versicherte er. „Eine deutschlandweite Überlastung der intensiv-medizinischen Behandlungskapazitäten konnte bislang vermieden werden; diesem Ziel gelten auch weiterhin all unsere Anstrengungen.“

Das Verfassungsgericht stellte in seiner Grundsatzentscheidung klar, dass der Staat „wirksame Vorkehrungen“ treffen müsse, damit eine Diskriminierung behinderter Menschen bei der Verteilung „pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen“ verhindert wird. Der Gesetzgeber habe solche Vorkehrungen bislang nicht getroffen.

Anlass des Rechtsstreits waren die zu Beginn der Corona-Pandemie im April 2020 veröffentlichten „klinisch-ethischen Empfehlungen“ der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi). Der Zusammenschluss medizinischer Fachgesellschaften will mit seinen Leitlinien Ärzten Hilfestellung geben, nach welchen Kriterien sie Patienten für eine intensivmedizinische Behandlung bei zu wenig Klinikbetten auswählen können. Neun Beschwerdeführer mit einer Behinderung rügten vor Gericht, dass die Divi-Empfehlungen sie diskriminierten.

Für den Deutschen Caritasverband ist die Entscheidung des Gerichts „eine große Beruhigung“. Diakonie-Präsident Ulrich Lilie sagte, der Gesetzgeber müsse nun schnell handeln. Dem Bundesverband evangelische Behindertenhilfe ist „die Klarstellung des Bundesverfassungsgerichts wichtig, dass bei allen Menschen allein auf die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit abgestellt werden darf“.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) begrüßte die Entscheidung ebenfalls. „Menschen mit Behinderung bedürfen mehr als alle anderen des Schutzes durch den Staat.“ Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, sagte dem „RedaktionsNetzwerk Deutschland“, dass Menschen mit Behinderungen und deren Selbstvertretungsorganisationen als Expertinnen in eigener Sache am Gesetzgebungsverfahren beteiligt werden sollten.

Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat der Gesetzgeber einen „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum“, wie er behinderte und chronisch kranke Menschen im Fall einer Triage schützt. Es müsse sichergestellt sein, „dass nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird“, betonten die Verfassungsrichter. Dabei habe der Gesetzgeber zu berücksichtigen, dass das ärztliche Personal für die Beurteilung medizinischer Sachverhalte im jeweiligen Einzelfall die letzte Verantwortung trägt.