TV-Tipp: "Westwall"

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8. Dezember, ZDFneo, 21.45 Uhr
TV-Tipp: "Westwall"
Wer schützt eigentlich die Verfassung vor dem Verfassungsschutz? Dies ist die alles entscheidende Frage, auf die "Westwall" hinausläuft. In der Serie hat Benedikt Gollhardt ein erstaunlich vielschichtiges Handlungsgerüst entwickelt, welches einige Überraschungsmomente bereithält.

Die Serie "Westwall" basiert zwar auf einem gleichnamigen Roman, aber tatsächlich hat Benedikt Gollhardt zuerst die Drehbücher geschrieben und dann, als er keinen Abnehmer fand, ein Buch draus gemacht. Er wird nicht nur als Autor, sondern auch als "Creative Producer" geführt, hatte also maßgeblichen Einfluss auch auf die Umsetzung seines Werks. Das erklärt womöglich den einen oder anderen Umweg der Geschichte; vier Folgen hätten es auch getan.

Fesselnd ist "Westwall" trotzdem, zumal Gollhardt ein beeindruckend komplexes Handlungsgerüst entworfen hat. Zentrale Figur ist eine von Emma Bading sehr vielschichtig verkörperte Kommissarsanwärterin: Julia lernt eines Tages den gleichaltrigen Nick (Jannik Schümann) kennen. Weil dem jungen Mann ein Teil des linken kleinen Fingers fehlt, ist ihre Freundin und Kollegin Lydia (Lorna Ishema) überzeugt, dass irgendwas nicht mit ihm stimmt, und tatsächlich entdeckt Julia nach der ersten gemeinsamen Nacht ein riesiges Hakenkreuz auf seinem Rücken: Nick gehörte als Teenager zu einer Neonazi-Clique, versichert jedoch glaubwürdig, das liege alles hinter ihm. Trotzdem trägt er seinen Teil dazu bei, dass in Julias Dasein nichts mehr so bleiben wird, wie es mal war: Sie wird einen geliebten Menschen verlieren, einen anderen wiederfinden und mehrfach in größte Gefahr geraten. Außerdem muss sie damit leben, niemandem mehr trauen zu können, als sie erkennt, dass sie bloß eine Figur in einem abgekarteten Spiel ist.

Clever lässt die Serie zunächst offen, wer auf welcher Seite steht. Die Verblüffung ist daher groß, wenn sich Sympathieträger als faschistische Umstürzler entpuppen, während ein mutmaßlicher Staatsfeind die Demokratie retten will. Entsprechend wichtig war es, auch die Nebenfiguren prominent zu besetzen. Dass die Neofaschisten nicht vor Mord zurückschrecken, versteht sich von sich selbst, aber auch die vermeintlich Guten sind in der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich; selbst wenn sie immerhin nicht über Leichen gehen.

Die zwischen Zuneigung und Zorn wechselnden Gefühle Julias für Nick bilden den emotionalen roten Faden der Geschichte, aber mindestens genauso interessant sind zwei weitere Beziehungen: Die Polizistin gerät immer wieder mit ihrem Ausbilder Berthold Roosen (Rainer Bock) aneinander, der ihr jedoch seltsamerweise selbst unverzeihliche Fehltritte durchgehen lässt; anscheinend will er bei ihr wiedergutmachen, was bei seiner Tochter schief gelaufen ist. Roosens Pendant auf Nicks Seite ist Verfassungsschützer Keppler (Devid Striesow), der den Jungen zwar mag, aber keine Skrupel hat, ihn für seine Ziele zu missbrauchen. Keppler ist ein Mann mit einer Mission, die im Grunde eine Obsession ist: Er ist seit Jahren hinter einer Frau her, die ebenfalls mal zur rechten Szene gehört hat und sich nun um Straßenkinder kümmert. Sie lebt mit ihrer Gruppe in der Nähe des einstigen Westwalls, an den noch heute in der Eifel mächtige Panzersperren und verfallene Bunkeranlagen erinnern.

Keppler ist überzeugt, dass Ira Tetzel (Jeanette Hain) ihre Überzeugungen nie abgelegt hat, aber selbst er kann nicht ahnen, welche Dimensionen der Plan hat, an dem die Frau beteiligt ist. Die kleinen Terroristen, die sie in der Eifel heranzieht, folgen ihrer "Mutter" jedoch nicht aus ideologischen Gründen, sondern weil sie ihnen ein Zuhause gegeben hat. Bei ihren Ansprachen wählt Ira die gleichen Worte wie der Polizeiausbilder: Beide appellieren ans Gemeinschaftsgefühl und betonen, die Gruppe sei eine Familie. In der Ambivalenz vieler Rollen liegt ohnehin ein weiterer Reiz der Reihe. Aus der Riege der namhaften Besetzung (darunter Suzanne von Borsody, Inka Friedrich, Kostja Ullmann und Stephan Grossmann) ragt neben Emma Bading und Jannik Schümann auch David Schütter als Iras Mann fürs Grobe heraus; der Schauspieler ist vor allem durch seine Leistungen in der Sky-Serie "8 Tage" (als tragischer Prediger) und in dem ARD-Dreiteiler "Unsere wunderbaren Jahre" nachhaltig in Erinnerung geblieben.

Die Konzentration auf dieses Trio soll auch ein Signal an ein junges Publikum sein, das das ZDF vor allem über die Mediathek erreichen möchte. Im Vergleich zu den von dieser Zielgruppe bevorzugten Produktionen der Streamingdienste fällt die sechsteilige Serie allerdings trotz der cleveren Cliffhanger eher gediegen aus. Die Bildgestaltung bewegt sich zwar auf hohem Niveau, zumal Kameramann Andreas Köhler viele eindrucksvolle Gegenlichteinstellungen gelungen sind, aber die Inszenierung durch Isa Prahl hätte durchaus noch kompakter sein können. Die letzte Arbeit der Regisseurin war ein intensiver "Tatort" aus Köln ("Gefangen", 2020), in dem Kommissar Ballauf von seinen Dämonen heimgesucht wurde. Nach ihrem Langfilmdebüt "1000 Arten Regen zu beschreiben" (ebenfalls mit Bading, 2018), einem Drama über einen jungen Mann, der sich weigert, sein Zimmer zu verlassen, hat sie mehrere Fernsehfilme von unterschiedlicher Qualität gedreht, etwa das sehenswerte ARD-Drama "Was wir wussten – Risiko Pille" (2020), aber auch eine ziemlich schwache "Marie Brand"-Episode. Neo zeigt heute die Folgen vier bis sechs; die komplette Serie steht in der ZDF-Mediathek.