Berlin (epd). Der ehemalige Chefermittler der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen, Thomas Walther, hält auch mehr als 70 Jahre nach dem Holocaust Prozesse gegen ehemalige Täter für sinnvoll. Die Gerichtsprozesse zeigten, „wer sich an Verbrechen beteiligt, kann niemals sicher vor Verfolgung sein“, sagte Walther in Berlin dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Auch wenn Staatsunrecht geschieht, gibt es Orte und Taten, an denen sich niemand beteiligen sollte.“ Walther vertritt aktuell als Vertreter der Nebenklage Holocaust-Opfer und deren Nachfahren im Verfahren gegen einen 101-jährigen ehemaligen KZ-Wachmann vor dem Landgericht Neuruppin. Dem Hochbetagten wird Beihilfe zum Mord an mehr als 3.500 Menschen vorgeworfen.
Walther betonte, „Auschwitz steht als Metapher für diese Orte und für diese Taten“. Die Justiz in Deutschland habe mit Blick auf die Beschäftigung mit NS-Verbrechen lange Zeit geschlafen: „Die Bedeutung dieses Verfahrens liegt in der Erkenntnis, dass die Besinnung auf den Weg von Recht und Gerechtigkeit in einem demokratisch orientierten Staat jederzeit möglich ist.“ Für die Gegenwart sei das Verfahren gegen Josef S. vor dem Landgericht Neuruppin „ein Zeichen dafür, dass ein Angeklagter unabhängig vom Alter in hohem Maße verhandlungsfähig sein kann“, sagte der 78-jährige Jurist.
Walther unterstrich auch die Bedeutung der Prozesse für Holocaust-Überlebende und deren Nachkommen. Das Verfahren gegen Josef S. zeige, „dass die Opfer von Massenverbrechen und ihre Angehörigen auch noch nach Jahrzehnten auf Gerechtigkeit hoffen können“. Gerechtigkeit komme aus Sicht der Opfer nie zu spät: „Das Verfahren bedeutet die Chance, nach Jahrzehnten des Schweigens vor einem deutschen Gericht über das eigene Leiden sprechen zu können.“ Dies sei unabhängig von einer eventuellen Strafe für den Angeklagten ein Stück späte Gerechtigkeit, sagte der ehemalige Richter.
Der seit Oktober laufende Prozess gegen Josef S. soll am Donnerstag fortgesetzt werden. Ihm wird Beihilfe zum grausamen und heimtückischen Mord in 3.518 Fällen im KZ Sachsenhausen vorgeworfen. Mit einem Urteil wird im Januar gerechnet.
Wegen des Gesundheitszustandes des Angeklagten ist die Verhandlung nach Brandenburg an der Havel verlegt worden. Der 101-Jährige ist nur wenige Stunden am Tag verhandlungsfähig. Unter den insgesamt 16 Nebenklägern sind Überlebende des KZ Sachsenhausen und Nachkommen ehemaliger Häftlinge, darunter aus Israel, Peru, Polen, den Niederlanden und Frankreich.