Sachsenhausen-Prozess: Richter empfiehlt Angeklagtem Aussage

Sachsenhausen-Prozess: Richter empfiehlt Angeklagtem Aussage
Überlebende und Angehörige von NS-Opfern haben im Sachsenhausen-Prozess an den Angeklagten appelliert, sich zu den Jahren 1941 bis 1945 zu äußern. Nun hat es auch der Vorsitzende Richter getan. Dies könne auch eine Frage des Anstands sein, sagte er.

Brandenburg an der Havel (epd). Im NS-Prozess gegen einen früheren Wachmann des KZ Sachsenhausen hat der Vorsitzende Richter an den Angeklagten appelliert, sich zu den Jahren 1941 bis 1945 zu äußern. Er bitte und fordere ihn auch auf, sich zu überlegen, ob er nicht doch zu dem Zeitraum etwas sagen könne, um den es in dem Prozess geht, sagte Richter Udo Lechtermann am Freitag zum Abschluss des sechsten Verhandlungstages in Brandenburg an der Havel: „Das könnte der Anstand gebieten.“ Dem 100-jährigen Angeklagten Josef S. wird Beihilfe zum Mord in mindestens 3.518 Fällen vorgeworfen. (AZ: 11 Ks 4/21)

Den Ermittlungen der brandenburgischen Kriminalpolizei zufolge hat der Angeklagte zwischen dem 23. Oktober 1941 und dem 18. Februar 1945 mehr als drei Jahre lang im KZ Sachsenhausen als SS-Wachmann gearbeitet. Die Tätigkeit ist auf verschiedenen Unterlagen aus der Zeit vermerkt, auch die Beförderung zum SS-Rottenführer. In der Zeit kamen laut Kriminalpolizei nachweislich Zehntausende Häftlinge ums Leben.

Im Zuge der Ermittlungen wurden unter anderem Dokumente aus der Gedenkstätte Sachsenhausen, dem Bundesarchiv in Berlin und der Stasi-Unterlagenbehörde ausgewertet. Die Vorermittlungen hatte die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg geführt.

Falls Josef S. nicht der Mann sei, der in den im Gerichtsverfahren bereits behandelten Unterlagen aufgeführt ist, wäre es hilfreich zu sagen, was er in der Zeit getan habe, sagte Richter Lechtermann. Dies könnte dann überprüft werden. Falls er derjenige sei, der in den Unterlagen steht, wäre eine Aussage auch für die Nebenkläger gut, die bisher in dem Verfahren ausgesagt haben, betonte der Richter: „Lassen Sie sich Zeit, überlegen Sie.“

Josef S., dessen 101. Geburtstag Mitte November naht, hatte sich bei seiner Vernehmung am zweiten Prozesstag für unschuldig erklärt. In der Befragung zu seinem Lebenslauf hatte er sich zwar zu Kindheit und Armeezeit in Litauen, Kriegsgefangenschaft und der Zeit in der DDR geäußert, jedoch nicht zu den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft.

Am Freitag sagte auch André Lassague, Sohn eines in Sachsenhausen ermordeten französischen Widerstandskämpfers, als Nebenkläger in dem Gerichtsverfahren aus. Sein Vater sei noch vor seiner Geburt 1943 deportiert und im März 1944 ermordet worden. Er habe ihn nie kennenlernen können, sagte der 78-Jährige und berichtete von seiner vaterlosen Kindheit in Armut im französischen Baskenland. Er sei nicht gekommen, um über Rache zu sprechen, aber es sei ihm auch nicht möglich, den Mördern zu verzeihen, sagte Lassague: „Sie müssen bestraft werden.“

Auch der Arzt, der die Verhandlungsfähigkeit von Josef S. begutachtet hat, war am Freitag als Zeuge geladen. Aussagen des Angeklagten während der Begutachtung, die laut Verteidigung nicht Gegenstand der Befragung sein sollten, wurden auf Antrag des Anwalts von Josef S. vom Gericht nicht zur Verwertung in dem Prozess zugelassen. Der Angeklagte habe eine Frage des Arztes als Aufforderung verstehen können, über die Tatvorwürfe zu sprechen, sagte Lechtermann. Es sei ein Gebot der Fairness, diese Aussagen nicht zu verwerten.