Ein Zitronentext in Corona-Zeiten

Frauen beissen in Zitronen
©Getty Images/Viktorcvetkovic
Der Zuversichtsbrief
Ein Zitronentext in Corona-Zeiten
"Gehören Sie zu den Menschen, die tatsächlich Zitronen schälen und hineinbeißen?" fragt Pfarrer Frank Muchlinsky in seinem Zuversichtsbrief und erläutert, warum die Corona-Zeit für ihn eine Zitronenzeit ist.

Jesus spricht: „Fürchtet euch nicht vor ihnen. Denn es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird. Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das verkündigt auf den Dächern. Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet viel mehr den, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle. Verkauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Haupt alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht; ihr seid kostbarer als viele Sperlinge. Wer nun mich bekennt vor den Menschen, zu dem will ich mich auch bekennen vor meinem Vater im Himmel. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem Vater im Himmel.“

Matthäus 10,26−33 in der Übersetzung der Lutherbibel von 2017, hier vorgelesen von Helge Heynold.

Liebe Spätsommerliche,

wie gehen Sie mit Zitronen um? Auspressen? Reiben? In Scheiben in den Gin Tonic geben? Sie vergessen und steinhart werden lassen oder mit einem Mal schimmelig, sodass es einem den Atem verschlägt? Oder rechtzeitig salzen und einlegen? Oder gehören Sie zu den Menschen, die tatsächlich Zitronen schälen und hineinbeißen? Im Englischen gibt es die schöne Redensart, dass man, wenn einem das Leben eine Zitrone gebe, Limonade machen solle; übertragen also: Gerätst du an etwas Ungenießbares, stecke ein wenig Arbeit und Fantasie hinein und mache daraus etwas erfrischend Köstliches!

Ich empfinde die Corona-Zeit insofern als eine Zitronenzeit, als dass unser aller Fantasie und Arbeit gefordert waren, aus dem Ungenießbaren, das uns präsentiert wurde, etwas Bekömmliches oder zumindest Verzehrbares zu machen. Auch bei der Bibellektüre kommen einem Zitronentexte unter. So nenne ich Passagen, die mir beim Lesen unwillkürlich die Lippen schmal werden lassen. Meistens sind einzelne Worte oder Phrasen darin, die sofort solch eine Reaktion in mir auslösen. Ähnlich wie bei einer Zitrone ahne ich, dass der Konsum irgendwie gut und gesund ist, aber einfach so hineinbeißen möchte ich nicht. Heute habe ich Ihnen einen solchen Zitronentext mitgebracht und ich werde versuchen, aus ihm einen Limonadentext zu machen.

Wenn man in unseren aktuellen Wochentext hineinbeißt, ihn also mit großen Bissen konsumiert, fallen zunächst die „Geschmacksrichtungen“ Furcht und Ermutigung auf, mit einer starken Note von Drohung. Jesus macht klar, wovor man sich fürchten soll und wovor nicht. Dreimal sagt er „Fürchtet euch nicht!“ und meint damit die Furcht vor denen, die einem an Leib oder Leben schaden können. Stattdessen soll man den fürchten, „der Leib und Seele verderben kann in der Hölle“. Ohne dass der Teufel genannt wird, schmeckt der Text plötzlich nach Schwefel. Und auch am Schluss unseres Abschnitts macht Jesus noch einmal deutlich, dass es hier ums Ganze geht: Nur wer sich zu ihm bekennt, zu dem wird sich auch Jesus vor Gott bekennen. Diese Drohung ist so dominant, dass man die anderen Komponenten darüber beinahe vergessen kann.

Bei näherem Hinsehen, oder beim stückweisen Verzehr, wenn Sie so wollen, wird deutlich, dass Jesus hier sehr viele Bilder benutzt, die wenig miteinander zu tun haben. Da geht es um Verborgenes, das laut gesagt werden soll, es geht um die Bedrohung des Leibes und der Seele, um den Preis von Spatzen und um die Anzahl von Haaren auf dem Kopf, schließlich um das gegenseitige Bekennen. Der Evangelist Matthäus verfügte offensichtlich über eine große Menge an Jesusworten, die ihm überliefert wurden, und die oft recht kurz waren. Matthäus hatte eine Gabe, diese einzelnen Worte zu längeren Reden zusammenzufassen. Die Bergpredigt ist solch ein Beispiel. Unser Text hingegen ist ein Teil der Rede, die Jesus hält, als er seine zwölf Jünger zum ersten Mal allein losschickt, das Evangelium zu verkünden und Kranke zu heilen, also ganz direkt in seine Fußstapfen zu treten. Beim Evangelisten Markus ist diese Szene wesentlich kürzer. Jesus gibt ihnen dort lediglich Anweisungen, was sie mitnehmen sollen und wie sie sich unterwegs zu verhalten haben.

Matthäus scheint sich ausgemalt zu haben, wie viel Angst die Jünger gehabt haben müssen, zum ersten Mal ohne Jesus loszuziehen: Angst vor der eigenen Courage bis hin zur Furcht um das eigene Leben. Da passen die verschiedenen Mutmach-Worte gut: „Ich hab euch geflüstert, was ihr sagen müsst. Ihr müsst es nur laut wiederholen!“ „Habt keine Angst, man könne euch etwas antun. Es geht um mehr als eure körperliche Unversehrtheit.“ „Außerdem: Was soll schon passieren? Gott lässt selbst Spatzen fliegen!“ „Gott interessiert sich so sehr für euch, dass er jedes einzelne Haar auf eurem Kopf gezählt hat.“ „Ich bin bei euch, in dem Maße, in dem ihr mich bekennt!“

Matthäus überliefert nicht, wie die Rede Jesu von seinen Jüngern aufgenommen wurde, aber Markus berichtet von ihrer Rückkehr. „Und die Apostel kamen bei Jesus zusammen und verkündeten ihm alles, was sie getan und gelehrt hatten.“ (Markus 6,30) Ich kann mir diese Szene gut vorstellen, wie sie ankommen, voll mit Erlebnissen. Natürlich wollen sie alles erzählen. Sie haben ihre Furcht überwunden und sich ins Ungewisse begeben. Sie haben Erfolg gehabt und haben gelernt, mit Misserfolgen umzugehen. Sie können zu Recht stolz auf sich sein. Vielleicht hat ihnen ja auch die Rede Jesu im Vorfeld den Mut gemacht, den sie brauchten.

Als Wochenaufgabe sollten Sie sich überlegen, an welcher Stelle Sie noch zögern, etwas zu tun, das getan werden muss, weil es jetzt „dran ist“. Wo fehlt Ihnen noch der rechte Mut oder das Vertrauen? Wenn Sie etwas gefunden haben, schauen Sie noch einmal in den Bibeltext, ob Ihnen ein Gedanke Jesu daraus Mut macht, den Schritt zu tun! Wenn Ihnen nichts einfällt, machen Sie sich Limonade!

Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Woche!

Ihr Frank Muchlinsky