Konfliktforscherin: "Die Menschen in Afghanistan allein gelassen"

Konfliktforscherin: "Die Menschen in Afghanistan allein gelassen"
17.08.2021
epd
epd-Gespräch: Holger Spierig

Bielefeld (epd). Nach Einschätzung der Konfliktforscherin Kerstin Eppert muss die internationale Gemeinschaft auf die Machtübernahme der Taliban umgehend und geschlossen reagieren. „Es muss deutliche Signale von außen geben, dass das verurteilt wird und dass das auch Konsequenzen haben wird“, sagte die Wissenschaftlerin dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Das Bild eines Staatsempfangs eines afghanischen Talibanführers durch den Außenminister Chinas sollte uns alarmieren“, sagte Eppert. Chinas Botschaft, dass es den Wunsch des afghanischen Volkes nach Selbstbestimmung respektiere, sei „ein unglaublicher Zynismus“.

Nun müsse es darum gehen, Sicherheitskorridore in die umliegenden Länder zu schaffen, um die Menschen, die das Land verlassen wollten, möglichst sicher rauszubringen, mahnte die Konfliktforscherin des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Es sei nicht entschuldbar, wieviel Zeit die Bundesregierung in den letzten Wochen verloren habe. Die Gewalt im Land werde zunehmen. „Die Menschen sterben schon jetzt. Sie haben unfassbare Angst - und wir haben sie damit alleingelassen.“

Auf lokaler Ebene war laut Eppert in Afghanistan die Entwicklung sehr gut vorangeschritten: Es seien viele Strukturen, Programme, Ausbildungsmöglichkeiten und Schulen aufgebaut worden. „Die Menschen, die jetzt dort Todesangst haben, haben in den vergangenen zwanzig Jahren zum wirtschaftlichen und kulturellen Aufbau des Landes beigetragen.“ Sie seien „das soziale Kapital des Landes“. Innergesellschaftliche Veränderungen benötigten Zeit.

Zum Einsatz in Afghanistan habe es in der Vergangenheit immer wieder Problemanzeigen gegeben, sagte die Konfliktforscherin. „Schon zu Beginn des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan war die Frage nicht geklärt, welches Ziel der Einsatz haben sollte“, erklärte Eppert. Die Frage der Ziele und sogenannten Exit-Strategien werde immer vernachlässigt, mit dem Hinweis, es müsse schnell auf eine Bedrohungslage reagiert werden. Ebenso werde die frühzeitige und zentrale Einbindung von Frauen auf allen Entscheidungsebenen nicht beachtet - oft mit der Begründung, dies sei nicht durchführbar in der Kultur des Landes. „Beides sind jedoch wichtige Marker für das Gelingen von Einsätzen“, unterstrich Eppert.

Die Konfliktforscherin, die in Krisen- und Konfliktregionen für die Vereinten Nationen im Einsatz gewesen war, forderte eine stärkere Einbeziehung von Afghanistan-Experten für die deutsche Außenpolitik. „Wir haben in Deutschland Expertinnen und Experten, die sich mit der Situation in Afghanistan auskennen und substanzielle Erfahrungen in der internationalen Zusammenarbeit und auch im Krisenmanagement haben“, sagte Eppert. „Es ist wichtig, dass diese Expertise in die Gestaltung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik mit eingebunden wird.“