Steinmeier fordert "Hinschauen" und Handeln gegen sexuelle Gewalt

Steinmeier fordert "Hinschauen" und Handeln gegen sexuelle Gewalt
Ein starkes Signal von ganz oben: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier stellt sich an die Seite der Opfer von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und ruft die Gesellschaft auf, mehr zu tun gegen Missbrauch, Leid und das Wegsehen.

Berlin (epd). In einer eindringlichen Rede hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Solidarität mit den Opfern sexueller Gewalt und eine „Haltung des Hinschauens“ im Kampf gegen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen gefordert. Das Staatsoberhaupt empfing am Mittwoch in Berlin Vertreterinnen und Vertreter des Nationalen Rats gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Der Rat, dem Experten aus Politik und Zivilgesellschaft, sowie Betroffenen- und Kirchenvertreter angehören, hatte zuvor einen gemeinsamen Maßnahmen- und Forderungskatalog präsentiert.

Der Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen sei eine moralische und politische Pflicht, sagte Steinmeier. Staat und Gesellschaft, jede und jeder Einzelne stünden in der Verantwortung. Eine Haltung des Hinschauens bedeute „nachfragen, offen sprechen, wenn nötig einschreiten“. Tausende Kinder und Jugendliche würden jedes Jahr Opfer sexuellen Missbrauchs, „nicht irgendwo fernab, sondern in nächster Nähe, mitten unter uns“, betonte Steinmeier. Es reiche nicht nur zu reagieren, wenn besonders drastische Fälle wie in Staufen, Lügde, Münster oder Bergisch Gladbach öffentlich würden.

Der Bundespräsident stellte sich klar auf die Seite der Betroffenen und derer, die den Kampf gegen sexuelle Gewalt aufgenommen haben. Allen Anstrengungen zum Trotz sei es aber noch nicht gelungen, das unvorstellbare Ausmaß sexuellen Missbrauchs an Kindern zu verringern. Im Gegenteil: Die Zahl der Missbrauchsdarstellungen im Internet explodiere, warnte Steinmeier, „die digitalen Medien wirken wie ein Brandbeschleuniger“. Im Corona-Jahr hätten Verbreitung und Konsum dieser Bilder noch zugenommen. Ebenso habe die Pandemie vor Augen geführt, wie viele Mädchen und Jungen in ihrem eigenen Zuhause Gefährdungen ausgesetzt seien.

Der Bundespräsident unterstützte die Forderungen des Nationalen Rats, der sich unter anderem für Schutzkonzepte in allen Schulen und Einrichtungen einsetzt, die Kinder und Jugendliche betreuen, für kindgerechte gerichtliche Verfahren, und mehr Schutz im Internet, eine enge Zusammenarbeit aller beteiligten Behörden in den Ländern und den Ausbau von Hilfen für Betroffene. Er forderte außerdem die Kirchen auf, die Aufarbeitung zu beschleunigen, die Täter namhaft zu machen und die Vertuschung zu ächten.

Bundesjustiz- und -familienministerin Christine Lambrecht (SPD) und der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, riefen zum entschiedenen Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen auf. „Wir brauchen einen nationalen Pakt gegen sexuelle Gewalt“, forderte Rörig bei der Vorstellung der „Gemeinsamen Verständigung“ des Nationalen Rats. Deutschland müsse mehr unternehmen gegen „die Masse an Sexualstraftaten gegen Kinder und Jugendliche“. Lambrecht unterstützte Rörigs Forderung nach einer Enquetekommission im neuen Bundestag, die die Bekämpfung der Gewalt im Internet voranbringen soll. Sonja Howard vom Betroffenenrat sagte, den Tätern müsse „angst und bange werden“. Aber die politischen Prozesse seien „zäh“, viele Forderungen immer noch nicht erfüllt.

Der Nationale Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen wurde von Rörig und Lambrechts Vorgängerin Franziska Giffey (SPD) ins Leben gerufen und arbeitet seit Ende 2019. In dem Gremium sitzen Institutionen-Vertreter, Fachleute und Betroffene zusammen. Dazu zählen auch der Missbrauchsbeauftragte der katholischen Kirche, Bischof Stephan Ackermann, die Vorsitzende der Aufarbeitungskommission Sabine Andresen, der Bevollmächtigte der Evangelischen Kirche, Prälat Martin Dutzmann, und der Präsident des Kinderschutzbundes Heinz Hilgers.

Die Zahl der registrierten Opfer sexueller Gewalt ist im vergangenen Jahr laut Bundeskriminalamt erneut gestiegen auf knapp 17.000 Kinder. Die Dunkelziffer ist weit höher. Besonders besorgniserregend ist das weiter zunehmende Ausmaß der Taten, die weltweit über das Internet verbreitet werden. Europol zufolge ist im ersten Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 der Konsum von Missbrauchsdarstellungen in Europa um 30 Prozent gestiegen.