Wissenschaftlerin: Heimstrukturen fördern Gewalt

Wissenschaftlerin: Heimstrukturen fördern Gewalt
Professorin fordert Auflösung von stationären Behinderteneinrichtungen
13.01.2021
epd
epd-Gespräch: Holger Spierig

Bochum, Bad Oeynhausen (epd). Stationäre Einrichtungen für behinderte Menschen begünstigen nach Ansicht der Juristin Theresia Degener Menschenrechtsverletzungen. "Heimstrukturen schaffen menschenrechtliche Gefährdungslagen", sagte die Professorin für Recht und Disability Studies der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum dem Evangelischen Pressedienst (epd). Langfristiges Ziel müsse es daher sein, diese Einrichtungen komplett aufzulösen und die stationäre Behindertenhilfe abzuschaffen, sagte die Wissenschaftlerin mit Blick auf die Ermittlungen wegen Freiheitsberaubungen in der diakonischen Stiftung Wittekindshof in Bad Oeynhausen.

Kurzfristig müsse jede Dienstleistung in der Behindertenhilfe regelmäßig von Überwachungsstellen überprüft werden, sagte Degener. "Es kann nicht sein, dass es immer nur Angehörige oder sehr mutige Mitarbeiter in den Einrichtungen sind, die diesen Zuständen ein Ende bereiten." Es müssten daher Anti-Gewalt-Konzepte von allen Trägern der Behindertenhilfe entwickelt werden. Das gehe jedoch nicht ohne die Einbindung der Interessenvertretungen von Menschen mit Behinderungen, unterstrich die Wissenschaftlerin.

In Nordrhein-Westfalen gebe es hiefür bereits Ansätze: Eine im Sozialministerium angesiedelte Steuerungsgruppe sei dort mit einer solchen Gewaltpräventionsstrategie für stationäre Betreuung befasst. "Dafür ist aber wichtig, dass erst mal ein Bewusstsein dafür entwickelt wird, dass Gewaltanwendungen absolut nicht mit menschenrechtlichen Ansätzen in der Behindertenhilfe vereinbar sind", sagte Degener, die bis Ende 2018 auch Vorsitzende des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen war.

In Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sei Gewalt in den letzten Jahrzehnten gesetzlich verboten und massiv zurückgedrängt worden, erklärte die Leiterin des Bochumer Zentrum für Disability Studies. In der Behindertenhilfe heiße es dann jedoch, solche Maßnahmen seien nicht möglich, weil diese Menschen behindert seien, kritisierte sie.

Dass es Übergriffe und freiheitsentziehende Maßnahmen auch in kirchlichen Einrichtungen gebe, sei nicht überraschend, sagte Degener. Seit Jahrzehnten gebe es Erkenntnisse, dass in der Behindertenhilfe immer wieder Gewalt angewendet werde. In diakonischen Einrichtungen seien die Strukturen nicht viel anders als in anderen Einrichtungen.

In den Strukturen sieht die Wissenschaftlerin eine Ursache für Gewalt in der Pflege: In dem geregelten Tagesablauf hätten die Mitarbeiter absolute Macht über die Bewohner. Diese könnten weder bestimmen, wann sie aufstehen, noch wann sie etwas tun dürfen. Durch die Abschottung der Einrichtungen würden zudem Übergriffe nicht so schnell wahrgenommen.