TV-Tipp: "Einer wie Erika"

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TV-Tipp: "Einer wie Erika"
25. November, ARD, 20.15 Uhr
Die Hebamme muss zweimal hinschauen, bevor sie der erschöpften Mutter das Geschlecht ihres Kindes verkünden kann: "ein Mädel". Der Vater verlässt wortlos das Zimmer; er hätte wohl lieber einen Jungen gehabt, der ihm auf dem Bauernhof hilft.

Es ist das Jahr 1948, irgendwo im tiefen Kärnten. Die Geschichte dieses Films und die Lebensgeschichte von Erika Schinegger beginnen in einer Zeit, in der die Menschen auf komplizierten Fragen einfache Antworten erwarten. Im Grunde hat sich das bis heute nicht verändert, und auch das macht "Ein Mann wie Erika" zu einem sehenswerten Film. Dirk Kämper (Buch) und Reinhold Bilgeri (Regie) erzählen in sorgfältig gestalteten Bildern, wie die kleine Erika zu einem Wildfang heranwächst, der nicht mit Puppen spielen will und frechen Jungs eins auf die Nase gibt. Wenn Erika es wieder mal zu toll getrieben hat, zündet die Mutter (Birgit Melcher) eine Kerze an; es werden viele Kerzen. Das Mädel entpuppt sich herausragendes Skislalomtalent, gewinnt Pokal um Pokal, wird in den österreichischen Kader berufen und Weltmeisterin. Die Herren vom Verband (unter anderem August Schmölzer und Cornelius Obonya) würden sich bei öffentlichen Auftritten zwar lieber mit einer etwas fescheren jungen Frau schmücken, aber im Glanz der Medaillen sonnen sie sich ebenso gern wie die Menschen in Erikas Dorf. Als 1966 vor den Winterspielen von Grenoble der "Sextest" eingeführt wird, stellt sich raus, dass sie ein Mann ist.

"Gefangen im falschen Körper" ist eine beliebte Beschreibung für die seelischen Nöte von Menschen, die als Mann auf die Welt gekommen sind, sich aber als Frau fühlen; oder umgekehrt. Diese Nöte hat die von Markus Freistätter sehr glaubwürdig verkörperte Erika allerdings gar nicht; aber vielleicht passen solche Gedanken auch schlicht nicht in ihr Weltbild. Sie weiß zwar, dass sie anders ist als andere Mädchen, und vielleicht wundert sie sich insgeheim auch darüber, dass sie so starke Gefühle für ihre Freundin Christa hegt, aber der Begriff "Transgender" wurde erst Jahre später geprägt. Die Männer vom Skiverband wollen das Problem schnellstmöglich vom Tisch: Die Ärzte einer Innsbrucker Klinik sollen mit Einverständnis der Eltern ein "anständiges Frauenzimmer" aus ihr machen.

Jetzt endlich rückt Erika selbst in den Mittelpunkt. Natürlich war sie schon die ganze Zeit die zentrale Figur der Geschichte, aber stets nur Objekt, nicht handelndes Subjet. Das ändert sich, als sie in die Obhut der mütterlichen Schwester Sigberta (Marianne Sägebrecht) gegeben wird. Sie sieht, dass Erika bloß ein Spielball der Funktionäre ist, sie spürt, dass dieser nicht mal zwanzig Jahre junge Mensch von den Ereignissen völlig überfordert ist; und sie ahnt, dass die Entscheidung, endgültig zur Frau zu werden, Erikas Leben für immer ruinieren würde. Der Arzt (Harald Schrott), der die Operation durchführen soll, pflichtet der Nonne bei: Penis und Hoden sind nach innen gewachsen; Brüste hat Erika ohnehin nicht. Sie selbst kann sich allerdings gar nicht mit dem Gedanken anfreunden, plötzlich ein Mann zu sein. Eine erotische Begegnung mit Christa (Lili Eppli) und die Aussicht, als Mann Vater zu werden zu können, als Frau aber ganz sicher keine Kinder zu bekommen, sorgen dafür, dass sie ihre Meinung ändert. Wochen später kehrt sie als Erik in ihr Elternhaus zurück. Der schweigsame Vater (Gerhard Liebmann) sagt immer noch nicht viel; aber insgeheim freut er sich, endlich den Sohn zu haben, den er sich immer gewünscht hat.

Es dauert zwar eine Weile, bis Kämper zur Identitätsfindung seiner Hauptfigur und damit zum eigentlichen Kern der Handlung kommt, aber der Weg dorthin ist wichtig, weil die Zeiten gänzlich andere waren; in der Schilderung dieser Umstände und der behutsamen Verarbeitung des Themas liegt die große Stärke der Geschichte. Dass sie authentisch ist, macht sie naturgemäß noch interessanter. Neben der vorzüglichen Arbeit mit den Schauspielern und der sehr zeitgenössisch klingenden Rock-Musik (Raimund Hepp), die einen reizvollen Kontrast zu den Bildern darstellt, ist vor allem die Kameraarbeit von Carsten Thiele herausragend. Viele Bilder wirken komponiert, das Lichtkonzept ist von großer Sorgfalt; Thiele und Bilgeri hatten offenkundig den Vorsatz, sich nicht mit der erstbesten Einstellung zufrieden zu geben. Eine Einstellung verdeutlicht Erikas Zerrissenheit perfekt: Ein Schatten teilt ihr Gesicht vertikal in zwei Hälften, die eine ist hell erleuchtet, die andere liegt im Dunklen. Als Kübler sie bittet, ihre geschlechtliche Laune der Natur seinen Studenten vorführen zu dürfen, schwebt sie bei der peinlichen Präsentation einfach davon; bei der Operation taucht sie buchstäblich ab.

Für Bilgeri erzählt der Film, der in Österreich im Kino lief, eine "Geschichte der Ohnmacht und Hilflosigkeit einer Gesellschaft, die von ihren Tabus entlarvt wird, eine Geschichte von Intoleranz, Vorurteilen und Scheinheiligkeit, ausgetragen auf den Schultern eines Teenagers", der doch bloß Skifahren wollte. Darum geht es im letzten Drittel, als sich Erik in seiner neuen Identität zurechtfinden muss und von den Menschen im Dorf, die ihn kurz zuvor noch gefeiert haben, beim Gottesdienst als "Missgeburt" ausgegrenzt wird. Der Regisseur hat zuvor erst zwei Filme gedreht, und beide liegen schon eine Weile zurück, selbst wenn das ZDF seinen sehenswerten ORF-Landkrimi "Alles Fleisch ist Gras" (2013) erst im Sommer 2020 ausgestrahlt hat. Zuvor hat der frühere Popstar, der in den Achtziger- und Neunzigerjahren ähnlich populär wie Falco war, seinen eigenen Roman "Der Atem des Himmels" (2010) verfilmt, in dem er die Biografie seiner Mutter mit dem großen Lawinenunglück 1954 im Großen Walsertal verband.