TV-Tipp: "Tatort: Borowski und der Fluch der weißen Möwe" (ARD)

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TV-Tipp: "Tatort: Borowski und der Fluch der weißen Möwe" (ARD)
10.5., ARD, 20.15 Uhr
Konventionell ist der "Tatort" aus dem hohen Norden nie, aber "Borowski und der Fluch der weißen Möwe" ist selbst für Kieler Verhältnisse ein ungewöhnlicher Film.

Nach einem heiteren Auftakt schlägt die Stimmung schlagartig um und wird fortan immer düsterer, doch aus dem Rahmen fällt die Geschichte aus einem anderen Grund. Sie beginnt zwar mit zwei Todesfällen, ist aber dennoch kein üblicher Krimi, denn beide Male scheint sich eine Ermittlung zu erübrigen. Die erste Tote ist eine junge Frau namens Jule (Caro Cult), die sich vor den Augen dreier entsetzter Polizeischüler von einem Hochhausdach in die Tiefe stürzt. Das Trio gehört zu einer Gruppe, die mit Klaus Borowski und Mila Sahin (Axel Milberg, Almila Bagriacik) an der Polizeiakademie im Rahmen eines Workshops den Ernstfall übt. Am nächsten Tag eskaliert ein Rollenspiel: Einer der Teilnehmer tut so, als nehme er die Kollegin Nasrin (Soma Pysall) als Geisel, und hält ihr einen Schraubenzieher an den Hals. Plötzlich dreht sie den Spieß um und sticht wie von Sinnen auf ihn ein; der junge Mann ist sofort tot. Mila Sahin steht daneben und kann nicht mehr eingreifen. Die Täterin steht ebenso unter Schock wie alle anderen Beteiligten.

Der Reiz der Geschichte liegt nicht zuletzt in der Abweichung vom gewohnten Muster: Es geht nicht darum, einen Täter zu überführen, sondern um die Frage, warum ein Mensch zum Mörder wird; ein Merkmal vieler Krimidrehbücher des Ehepaars Eva und Volker A. Zahn, das für "Ihr könnt euch niemals sicher sein" (2008) mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet worden ist. Eine ihrer letzten Arbeiten war das Love-Parade-Drama "Das Leben danach" (2017). Auf den ersten Blick mag es keine Parallelen zwischen zu ihrem zweiten Kieler "Tatort" nach "Borowski und die Kinder von Gaarden" (2015) geben, aber hier wie dort ist ein erlittenes Trauma der Motor der Handlung. Selbstverständlich wollen Sahin und Borowski wissen, warum Nasrin den Kollegen erstochen hat, zumal sie sich für die unter ihrer Aufsicht begangene Tat verantwortlich fühlen. Der entsprechende emotionale Ausnahmezustand hat verständlicherweise einige Spannungen zwischen dem Duo zur Folge; ein weiterer Reizpunkt.

Erster Schritt zur Auflösung ist ein Detail, dass Sahin entdeckt, als sie wieder und wieder die Videoaufnahmen vom Rollenspiel studiert: Nasrin ist ausgerastet, als ihr der Kollege etwas ins Ohr geflüstert hat. Die Szene erinnert an John Frankenheimers Hollywood-Klassiker "Botschafter der Angst": In dem Polit-Thriller verwandelt sich ein vermeintlicher amerikanischer Kriegsheld durch ein bestimmtes Signal in einen kommunistischer Auftragskiller; Jonathan Demme hat die Geschichte 2004 neu verfilmt ("The Manchurian Candidate"). Natürlich handelt es sich bei Nasrins Tat nicht um einen politischen Mord, aber auch bei ihr hat die geflüsterte Parole eine prompte Reaktion ausgelöst. Rechtsmedizinerin Kroll (Anja Antonowicz) hat in ihrer polnischen Kindheit Lippenlesen gelernt: Es waren die Worte "Ficki-Micki-Bitch", die die Polizeischülerin in eine Mordmaschine verwandelt haben. Borowski und Sahin stehen vor einem Rätsel, zumal Nasrin nichts zur Aufklärung beitragen will (oder kann). Bei den Vernehmungen wird sie jedoch immer von Stimmen und Bildern gequält. Die Ermittlungen führen schließlich zu einem Verbrechen, das zehn Jahre zurückliegt und nicht nur die Erklärung für den Suizid zu Beginn liefert, sondern auch Sahins Ahnung bestätigt, dass es eine Verbindung zwischen Nasrin und Jule gibt.

"Borowski und der Fluch der weißen Möwe" ist der erste Fernsehfilm von Hüseyin Tabak. Seine Kinoproduktionen sind mit einigem Erfolg auf diversen Festivals gelaufen, darunter der Kinderfilm "Das Pferd auf dem Balkon" (2012); zuletzt hat der gebürtige Lemgoer mit kurdischen Wurzeln "Gipsy Queen" (2019) gedreht, das Porträt einer alleinerziehenden Mutter, die ihr Talent als Boxerin entdeckt. Dieser Film hat letztlich den Ausschlag gegeben, Tabak die Regie für den "Tatort" anzubieten, in dem weibliches Boxen ebenfalls eine Rolle spielt: Sowohl Nasrin wie auch Sahin bauen auf diese Weise ihre Emotionen ab. Entscheidender für die Qualität des Films ist jedoch Tabaks Arbeit mit dem Ensemble (zu dem auch Kida Khodr Ramadan als Jules Vater gehört) sowie seine Fähigkeit, Szenen mit wenig Spielraum eine hohe Intensität zu verleihen. Das gilt vor allem für die kammerspielartigen düsteren Aufnahmen im Vernehmungsraum und in Nasrins Krankenzimmer. Bei den Befragungen der jungen Polizistin sorgen akustische Verfremdungen dafür, dass sich Nasrins Verstörtheit unmittelbar nachvollziehen lässt. Außerdem hat Tabak einen cleveren Horrorfilmmoment eingebaut, als sie ihren Peiniger im verspiegelten Fenster des Zimmers sieht. 

Der Krimi enthält diverse Einfälle dieser Art. Dazu gehört neben dem tragischen Finale, als sich auf dem Hochhausdach der Kreis schließt, auch das Tier aus dem Titel. "Fliegen" ist eine Art Leitmotiv für den Film, und das nicht nur wegen der vielen Flugaufnahmen, sondern auch musikalisch: Das gleichnamige Lied, das zu Beginn und am Schluss erklingt, ist von Sero (Stefan Hergli), der als einer der jungen Polizisten sein Kameradebüt gibt; gesungen hat es Almila Bagriacik.