Der Friedensgruß im Gottesdienst

Kerze in einer Hand
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Im Vollzug von Friedensgruß verschränkt sich die Liturgie mit den vielfältigen lebensweltlichen Erfahrungen von Frieden und Unfrieden, die die Teilnehmenden in den Gottesdienst mitbringen, und stellt sie in das Licht des Friedens Gottes.
Der Friedensgruß im Gottesdienst
Einstimmen in das Friedenshandeln Gottes
Stefan Heuser diskutiert die Bedeutungsdimensionen und Gestaltungsmöglichkeiten des Friedensgrußes im Gottesdienst und bestimmt ihn als eine zugleich soziale und eschatologische Praxis. Dazu wird die Offenheit des Friedensgrußes für die lebensweltlichen Erfahrungen der Gottesdienstteilnehmenden ritualtheoretisch untersucht und seine theologische Dimension als Einstimmen in das Friedenshandeln Gottes herausgearbeitet. Abschließend erörtert der Beitrag, welche praktischen Konsequenzen für die liturgische Gestaltung des Friedensgrußes sich aus den theoretischen Überlegungen ergeben. Dieser Beitrag ist dem Synodenreader der EKD 2019 entnommen.

Gegenwärtig bedrohen gewaltsame Konflikte wieder vermehrt den Frieden in Familien, Schulen, Betrieben, zwischen gesellschaftlichen Gruppen und zwischen Staaten. Ungerechte Herrschaftsverhältnisse, Fundamentalismus und Nationalismus, Waffenhandel, die Schwächung von Institutionen und Staaten, soziale und ökonomische Ungerechtigkeit und Rechtverletzungen stellen die Friedensethik vor große Herausforderungen.In einer von Gewalt bedrohten und gezeichneten Lebenswelt ist der gottesdienstliche Friedensgruß als zugleich soziale und eschatologische Praxis ein Politikum par excellence.

Im Vollzug von Friedensgruß und Friedenszeichen (im Folgenden nenne ich diesen Ritualzusammenhang kurz: "Friedensgruß") verschränkt sich die Liturgie mit den vielfältigen lebensweltlichen Erfahrungen von Frieden und Unfrieden, die die Teilnehmenden in den Gottesdienst mitbringen, und stellt sie in das Licht des Friedens Gottes. Zu dieser Bedeutungsoffenheit kommt eine im Vergleich mit anderen Teilen der Liturgie überaus hohe Interaktionsintensität des Friedensgrußes. Seine verbalen und non-verbalen Elemente und interaktionellen Sequenzen sind symbolisch hoch verdichtet, aber liturgisch nur wenig formalisiert – was die liturgische Gestaltung zu einem Balanceakt werden lässt.

Im Folgenden werde ich zunächst die ritualtheoretischen und praktischen Implikationen der Bedeutungsoffenheit des Friedensgrußes darlegen (1). Dann werde ich die theologische Dimension des Friedensgrußes als Einstimmen in das Friedenshandeln Gottes herausarbeiten (2). Abschließend zeige ich Konsequenzen meiner Überlegungen für die liturgische Gestaltung des Friedensgrußes auf (3).

1. Die Bedeutungsoffenheit des Friedensgrußes

In der Grundform der lutherischen Abendmahlsliturgie steht der Friedensgruß zwischen Vaterunser und Agnus Dei mit anschließender Austeilung der Gaben. Die dichte Interaktion des Friedensgrußes mit ihrer verbalen und non-verbalen Zuwendung zu anderen Teilnehmenden im Gottesdienst stellt eine deutliche liturgische Unterbrechung dar. Während man sich in anderen Phasen eines Gottesdienstes entscheiden kann, ob man mitbeten, mitsingen, mithören oder teilhaben will, kann man die Aufforderung "Gebt einander ein Zeichen des Friedens" kaum ausschlagen, ohne Anstoß zu erregen.

Man wird zu einem Blick- und Körperkontakt sowie zu einem verbalen Austausch genötigt, der keine festgelegte liturgische Form hat und der einem je nach Gegenüber möglicherweise hygienisch unangenehm ist oder sogar als unaufrichtig empfunden werden kann. Während die einen beim Friedensgruß gemischte Gefühle empfinden, ist er für andere einer der Höhepunkte des Gottesdienstes. Sie erleben den Friedensgruß als Ausdruck von Zuwendung, Vertrauen und Verbundenheit, die für sie zu einem christlichen Leben in einer Kirchengemeinde dazugehören. Gelebte Welt und vorgestellte Welt verschmelzen im Friedensgruß. Er wird zur Realisierungsgestalt von Glaubensüberzeugungen. Für manche ist der Friedensgruß nicht nur Ausdruck, sondern sogar eine Grundlage ihres Glaubens. Er modelliert für sie die Realität in einer Weise, die ihnen zu glauben hilft und sie in ihrem Glauben bestärkt.

Allerdings kann der Friedensgruß, statt in seinem rituellen Vollzug Hoffnung und Handeln zu vereinen, auch deren Auseinanderklaffen sichtbar machen. Er kann offenbaren, dass die Akteure einander nicht im Frieden zugewandt sind und sich außerstande fühlen, sich ein Zeichen des Friedens zu geben. Während die Schwelle, einander den Friedensgruß zu entbieten, in sozial heterogenen Gottesdienstgruppen wegen der Fremdheit der Interaktionspartner hoch sein kann, liegt diese Schwelle in homogenen Gruppen unter Umständen gerade deshalb hoch, weil das Gegenüber einem nur allzu bekannt ist. Durch den Friedensgruß kann manchen Beteiligten im Gottesdienst schmerzhaft vor Augen geführt werden, dass sie bei bestimmten Menschen zu einem Friedenszeichen nicht in der Lage sind. Fallen im Ritual die reale und die vorgestellte Wirklichkeit derart auseinander, kann es als schmerzhaft, peinlich oder unaufrichtig empfunden werden oder gar nicht erst zustande kommen, wenn es die Platzwahl im Gottesdienstraum zulässt. Soziale und emotionale Anerkennung sowie Abneigung und Feindschaft: der Friedensgruß kann beides zu Tage fördern.

So bedeutungsoffen der Friedensgruß für lebensweltliche Einflüsse aber auch ist – sein Ort in der Liturgie und sein Zusammenklang mit anderen friedensbezogenen Elementen in evangelischen Sonntagsgottesdiensten rücken den Austausch des Friedenszeichens deutlich ins Licht des Friedens Gottes. Im Kontext des Gottesdienstes geht es beim Friedensgruß nicht in erster Linie darum, menschliche Friedfertigkeit aufzubieten und zu demonstrieren, sondern sich gemeinsam dem Frieden Gottes anzuvertrauen. Indem die Gottesdienstteilnehmenden einander das Friedenzeichen entbieten, finden sie sich in einer anderen "Story" wieder, der Story des Friedens Gottes mit den Menschen, die mitten im Frieden und Unfrieden sozialer Abläufe einsetzt und wirksam wird.

2. Die theologische Dimension des Friedensgrußes

In seinem Vollzug konstituiert der Friedensgruß eine eschatologische, die sozialen Zusammenhänge unterbrechende Friedenswirklichkeit, die mit der Hoffnung verbunden ist, dass sie über den Gottesdienst hinaus in den Alltag hineinwirkt. Durch den Friedensgruß wird der Frieden Gottes angesagt, inszeniert und in ein Verhältnis zum Frieden bzw. Unfrieden unter den Menschen gesetzt. Der Friedensgruß ist – wie alle Wegstationen des Gottesdienstes – mit der Erwartung versehen, dass sich in ihm Gottes Wirklichkeit und die Wirklichkeit der Menschen begegnen. Sofern im Vollzug des Friedensgrußes Gottes Frieden zur Geltung kommt – ein dem Glauben nach vom Geist Gottes gewirkter Vorgang, der sich liturgisch anbahnen, aber nicht herbeiführen lässt –, berührt die Wirklichkeit des Friedens Gottes die soziale Wirklichkeit der Akteure. Der Friedensgruß wird dann zu einer zugleich sozialen und präsentisch-eschatologischen Praxis: ein Einbruch des Friedens Gottes in die soziale Wirklichkeit. Mit ihm stimmen Menschen in das Friedenshandeln Gottes ein.

Bereits der Wortlaut des Friedensgrußes ("Der Friede des Herrn sei mit euch allen.") verdeutlicht, dass das Friedenszeichen ("Gebt einander ein Zeichen des Friedens.") eine Interaktion im Zeichen des Friedens Gottes und nicht allein Ausdruck menschlicher Friedfertigkeit ist. Auch im folgenden Agnus Dei ("Christe, du Lamm Gottes […] gib uns deinen Frieden.") bittet die Gemeinde um Gottes Frieden. Die Sendungsformel ("Geht hin im Frieden des Herrn.") entlässt die Abendmahlsgemeinde in ein von ihrem Herrn gestiftetes Friedensethos. Auch der Schlusssegen ("Der Herr segne und behüte dich […] und gebe dir Frieden.") appelliert nicht an die Friedlichkeit der Gemeinde, sondern setzt den Frieden Gottes mitten hinein in die menschliche Wirklichkeit. Hier wird er sozial wirksam, wie es liturgisch auch im "Gloria" im Anrufungsteil des Gottesdienstes ("Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Fried’, den Menschen ein Wohlgefallen.") zum Ausdruck kommt.

Die Friedenspraxis des Gottesdienstes sagt an und bezeugt, dass Gott mit seinem Frieden in das Leben von Menschen kommt – im Gottesdienst ebenso wie im Alltag. Sie lässt Menschen den Frieden Gottes erfahren, der darauf zielt, in ihrem Leben weiterzugehen. Der Frieden Gottes verbindet sich durch die Liturgie mit der Erfahrungswirklichkeit der Feiernden und bahnt neue Erfahrungen dieses Friedens in ihrem Leben an. So konstituiert der Gottesdienst ein Friedensethos, das sich "über den Gottesdienst im engeren Sinne hinaus in den weiteren sozialen Praktiken des Glaubens [verkörpert]". Der Gottesdienst bleibt aber der primäre Entdeckungszusammenhang jener vom Geist Gottes initiierten Wirklichkeit, die sich mit der Wirklichkeit der Menschen verbindet und sich in ihre eigenen Lebensstorys hinein fortsetzt.

Die liturgische Friedenspraxis etabliert also keine sakrale Friedenssphäre neben einem profanen Bereich von Friedlosigkeit. Vielmehr bringt sie die Erfahrungen, die Menschen in die Liturgie mitbringen, mit dem Friedenshandeln Gottes in Verbindung und konstituiert eine spannungsvolle Wirklichkeit – im Gottesdienst und darüber hinaus. Indem sie den Friedensgruß vollziehen, treten die Gottesdienstteilnehmenden ausdrücklich unter die Verheißung der Ankunft des Friedens aus der Höhe. Sie begeben sich im Vollzug der Liturgie mit all dem, was ihre Lebenswelt an Frieden und Unfrieden ausmacht, in eine neue Story hinein: die Story des Friedens Gottes. Diese ist aber dadurch gekennzeichnet, dass diejenigen, die sich in diesem Ethos aufhalten, den Frieden nicht hervorbringen müssen, sondern sich in ihn hineinbegeben und in ihm aufhalten können: in der Praxis des Gottesdienstes und in der alltäglichen sozialen Praxis.

Der "Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft" geht der Befriedung der Welt voraus, aber er bringt sich durch das liturgische Friedenshandeln hindurch schon jetzt im Leben der Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Gottesdienst zur Geltung. Dies jedenfalls ist eine theologische, d.h. auf Gottes Handeln gerichtete Erwartung an den Friedensgruß im Gottesdienst. Der Zusammenhang von Gottesdienst und Frieden lässt sich demnach nicht herstellen, sondern wird passiv konstituiert – und die Aufgabe der Liturgie ist es, diese passive Konstitution zum Ausdruck zu bringen.Wenn dies gelingt, erfahren sich Menschen im Medium des Gottesdienstes als Teil der Story von Gottes Frieden, die darauf aus ist, in ihrem Leben weiterzugehen als Erkundung einer von Gottes Friedensethos bestimmten Wirklichkeit.

In ihrer Bedeutungsoffenheit für lebensweltliche Sinnressourcen zielt die liturgische Kommunikation des Friedens darauf, die alltäglichen sozialen Dynamiken von Inklusion und Exklusion, die Emotionen von Antipathie und Sympathie sowie die Handlungsschemata von Freundschaft und Feindschaft zu unterbrechen und für die Akteure performativ eine neueWirklichkeit präsent zu machen. Folgt das Ritual dieser Logik, gewinnt das verbum externum vom Frieden auf Erden im Friedensgruß liturgische Gestalt. Diesen Frieden stellen Menschen nicht durch Worte und Gesten her, sondern sie begeben sich durch ihr liturgisches Handeln in ihn hinein. Das macht den Friedensgruß zu einer gleichermaßen verheißungsvollen wie heiklen liturgischen Gestaltungsaufgabe.

3. Konsequenzen für die liturgische Gestaltung

Die liturgische Gestaltung des Friedensgrußes steht vor der Aufgabe, verbal und nonverbal zum Ausdruck zu bringen, dass menschliches Friedenshandeln nicht den Frieden Gottes ersetzt, sondern ihn bezeugt. Um Verhaltensunsicherheiten und unklaren Symboliken in der Gottesdienstpraxis entgegenzuwirken, ohne die Spontaneität im Vollzug des Rituals zu sehr einzuschränken, wäre es sinnvoll, sich in der Gemeinde über eine angemessene liturgische Gestalt des Friedenszeichens zu verständigen. Dies könnte z.B. im Rahmen des Kirchenvorstands bzw. Presbyteriums, von Gottesdienstnachbesprechungen oder von thematisch orientierten Gemeindeversammlungen geschehen. Folgende Gestaltungsaspekte können dabei eine Rolle spielen:

Aus dem Friedensgruß sollte kein moralistischer Kraftakt werden, in dessen Verlauf die Gemeinde inklusive Liturgin alles daransetzt, möglichst jedem und jeder in gleicher Intensität ein Zeichen des Friedens zu geben. Symbolisch unangemessen wäre es auch, wenn das Friedenzeichen nur innerhalb von bestimmten Gruppen ausgetauscht würde und allein Sitzende unfreiwillig ausgeschlossen blieben. Nicht weniger fragwürdig wäre es, wenn sich einige Gottesdienstteilnehmerinnen und -teilnehmer beim Friedenszeichen umarmen und anderen lediglich die Hand geben. Während der Händedruck als Friedenszeichen für den Verzicht auf Gewalt und das Einstimmen in ein Friedensbündnis stehen kann, bringt die Umarmung eine intensivere, in der persönlichen Biografie verwurzelte Verbundenheit zum Ausdruck. Sie wirkt gegenüber dem sozial weithin akzeptierten Händedruck sozial exklusiv. Zu diskutieren wäre daher, ob nicht zugunsten liturgischer Eindeutigkeit auf Umarmungen verzichtet und stattdessen ein Händedruck den verbalen Austausch non-verbal unterstützt.

Die Liturgin bzw. der Liturg könnte dann nicht nur unbestimmt dazu auffordern, einander "ein Zeichen des Friedens" zu geben. Stattdessen könnte die Formel lauten: "Gebt einander die Hand als Zeichen des Friedens." Allerdings wäre der Austausch des Friedenszeichens auch dann nicht davor geschützt, lediglich als reziproke Versicherung, einander friedlich zu begegnen, verstanden zu werden. Die Friedensgeste könnte daher nicht nur von denWorten "Friede sei mit dir!", sondern von "Der Friede des Herrn sei mit dir! / Gottes Friede sei mit dir!" begleitet werden. Dies wäre theologisch wünschenswert, da der Friedensgruß auf diese Weise als Zuspruch des Segens Gottes bzw. als Segenswunsch artikuliert würde, dessen Wechselseitigkeit die Akteure in die Story des Gottesfriedens stellt, in der auch der Bund des Friedens unter den Menschen ermöglicht und per Händedruck besiegelt wird.

Ob eine derart theologisch hochgestochene Formel aber zu einer möglichst von allen akzeptierten Gottesdienstpraxis werden kann, müsste in der Gemeinde diskutiert werden. Viele Gemeindeglieder ziehen es vor, einander bloß "Friede!" zu wünschen oder stumm die Hand zu schütteln. Dies könnte im Kontext der Abendmahlsliturgie theologisch vor allem dadurch gestützt werden, dass die Liturgin beziehungsweise der Liturg als Entlassungsformel vom Tisch des Herrn im Anschluss an Eph 4,1–3 folgende Worte verwendet: "Haltet fest das Band des Friedens, das Gott gestiftet hat." Dadurch würde symbolisiert, dass die Verbundenheit unter den Gemeindegliedern nicht durch eine ihre realen Differenzen überspielende friedfertige Gesinnung, sondern im gemeinsamen Ergreifen eines externen Friedens gefunden wird, der Differenzen bestehen lässt. Auch hier würde sich der Händedruck als Zeichen anbieten, das einem Festhalten am Band des Friedens symbolisch Ausdruck verleiht.

Insgesamt sollte bei dem Versuch, liturgischer Beliebigkeit entgegenzuwirken, die Bedeutungsoffenheit des Friedensgrußes nicht zu sehr eingeschränkt und die friedensbezogenen Elemente der Liturgie in ihrem Gehalt und ihrer Rhetorik nicht zu sehr vereindeutigt werden. Bei der Gestaltung der Liturgie ist darauf zu achten, die Vielfalt der Schnittstellen zu erhalten, an denen die Wirklichkeit des Friedens Gottes durch die Liturgie hindurch die Lebenswelt der Menschen tangieren kann. Ziel ist es, eine sozial achtsame, lebensweltbezogene und liturgisch deutliche Gottesdienstpraxis zu finden, die dem Symbolgehalt des Friedenszeichens, den bestehenden liturgischen Traditionen, den Erfahrungen der Feiernden und den individuellen Bedürfnissen von Nähe und Distanz gleichermaßen gerecht wird, und die zu einer Balance zwischen Spontaneität und Verhaltenssicherheit verhilft.

Dieser Text erschien erstmals am 11. August 2019 auf evangelisch.de.