TV-Tipp: "Die verschwundene Familie" (ZDF)

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TV-Tipp: "Die verschwundene Familie" (ZDF)
7.1., ZDF, 20.15 Uhr
Es wirkte wie ein allzu großzügiger Umgang mit Sendezeit, als das ZDF vor vier Jahren den fast schon verschwenderisch gut besetzten Zweiteiler "Tod eines Mädchens" zeigte. Buch und Regie nutzen die 180 Minuten jedoch, um die Charaktere der verschiedenen Verdächtigen gründlich auszuloten. Nun kehrt das Ermittlerduo von damals zurück, denn in dem beschaulichen Ostseeort Nordholm hat sich offenbar erneut ein Verbrechen zugetragen.

Am Fuß eines Steilhangs wird die Leiche eines Mannes gefunden. Seine Frau und seine Tochter sind verschwunden; möglicherweise handelt es sich um erweiterten Suizid. Aber vielleicht hat die Frau auch ihren Mann ermordet und hat sich dann mit der Tochter aus dem Staub gemacht, um irgendwo ein neues Leben anzufangen.

Wie schon bei "Tod eines Mädchens" gibt es neben dem rätselhaften Fall eine zweite Ebene, die nicht minder reizvoll ist: Die einheimische Polizistin, Hella Christensen (Barbara Auer), kennt sämtliche Beteiligten bestens. Die Thomsens waren ihre direkten Nachbarn, sie hat sie bislang für eine ganz normale Familie gehalten. Dann entdeckt sie jedoch, dass ihr Mann Johannes (Rainer Bock) eine Affäre mit der verschwundenen Anna hatte. Die Kommissarin befindet sich ohnehin in einem Ausnahmezustand: Vor vier Jahren ist sie nach Kiel versetzt worden; das hat der Ehe nicht gut getan, weshalb sie nun gekündigt hat. Auf Betreiben von Simon Kessler (Heino Ferch), der den damaligen Fall gemeinsam mit ihr gelöst hat, ist der vorgezogene Ruhestand kurzfristig verschoben worden. Die Konstellation dieses Duos hat schon im ersten Zweiteiler für viel Reibungshitze gesorgt, weil der Kollege vom LKA Hamburg keinerlei Rücksicht auf etwaige Befindlichkeiten nimmt; ein Rollentypus, der für Heino Ferch zwar nicht gerade neu ist, den er aber immer wieder perfekt verkörpert.

Autoren von "Tod eines Mädchens" waren Stefan Holtz und Florian Iwersen, Regie führte Thomas Berger; er hat diesmal auch das Drehbuch geschrieben. Erzähl- und Inszenierungsstil sind der gleiche wie damals: Obwohl sich der Schöpfer von "Kommissarin Lucas" viel Zeit nimmt, wirkt der Film überraschend dicht. Abgesehen von einer flott geschnittenen Szene gleich zu Beginn, als Thomsens Leiche gefunden wird, ist das Tempo beinahe bedächtig, ohne allerdings je betulich zu werden. Außerdem ist die Besetzung erneut hochkarätig. Auch kleinere Rollen bekommen auf diese Weise automatisch eine gewisse Bedeutung, selbst wenn die Figuren dies auf den ersten Blick gar nicht hergeben. Das gilt vor allem für einen prominenten Schriftsteller (Rüdiger Vogler), bei dem lange offen bleibt, was er überhaupt mit der Handlung zu tun hat. Sein jüngstes Buch trägt den mystischen Titel "Dunkle Wasser"; später stellt sich raus, dass Kessler keineswegs nur wegen der Thomsens in Nordholm ist.

Die Kleinstadt, sagt der Kommissar im zweiten Teil, wirke so friedlich, aber in Wirklichkeit seien überall Leichen im Keller. Bauunternehmer Hansen (Dietrich Hollinderbäumer) zum Beispiel, Annas Vater, ist ein unsympathischer Patriarch alter Schule, der seinen Schwiegersohn für einen Versager gehalten und dafür gesorgt hat, dass der Mann keine Arbeit findet. Der alte Hansen hat eindeutig was zu verbergen, und das nicht nur, weil er kurz vor den Ereignissen eine halbe Million Euro in bar abgehoben hat. In weiteren Nebenrollen wirken zudem die Schauspieler mit, die im ersten Zweiteiler noch zentrale Charaktere verkörpert haben, allen voran Anja Kling als Mutter des damaligen Mordopfers. Auch Gustav Peter Wöhler ist wieder mit von der Partie: Hotelier Uwe Hahn gehörte im ersten Film zum Kreis der Verdächtigen und verweigert Kessler nun prompt ein Zimmer; auf seine typische kühle Art sorgt der Kommissar dafür, dass er trotzdem in Hahns Hotel unterkommt.

Vielschichtigste Figur ist jedoch Hella Christensen, denn natürlich bleibt auch Kessler nicht verborgen, dass die Kollegin mehr als bloß mittelbar betroffen ist. Geschickt sorgt Berger dafür, dass der LKA-Kommissar mehr als bloß ein überheblicher und notorisch schlechtgelaunter Kotzbrocken ist, der Fragen grundsätzlich kühl von sich abprallen lässt. Dass er sich abends im Hotel betrinkt, nachdem er mit seinem kleinen Sohn telefoniert hat, mag noch klischeehaft wirken, aber in den berührenden Szenen mit dem einzigen Überlebenden der Familie Thomsen, dem jungen Tom (Timo Hack), darf Ferch ganz andere Seiten des Ermittlers zeigen. In einem der wenigen entspannten Momente ruft Berger allein mit einem Schnitt Heiterkeit hervor, als sich Tom in die Hose gemacht hat und Kessler ihm großzügig sein Jackett überlässt. Dass der Junge fast panikartig zurückschreckt, als Christensen ihn bei seinen Großeltern unterbringen will, wirft kein gutes Licht auf den Bauunternehmer und seine Frau.

Neben der Führung der ausnahmslos vorzüglichen Schauspieler zeichnet sich "Die verschwundene Familie" wie schon "Tod eines Mädchens" durch eine sorgfältige Bildgestaltung aus. Kameramann Frank Küpper verzichtet zwar auf kunstvolle Einstellungen, hat aber im Zusammenspiel mit der wie fast immer in den ZDF-Krimis interessanten Musik (Florian Tessloff) seinen Anteil daran, dass die Bilder eine permanente subtile Spannung erzeugen. Außerdem verbreiten sie eine kühle Atmosphäre, obwohl die Dreharbeiten im Sommer stattfanden und meist die Sonne scheint. Der erste Teil endet wirkungsvoll: In einer Mischung aus Gegenwart und Rückblende betritt Christensen das Haus der Nachbarn, die sie spontan zum Essen einladen, dann erlischt schlagartig das Licht und sie steht allein im Dunkeln. Den zweiten Teil dieses dank der vielschichtigen Charaktere auch über 180 Minuten fesselnden Films, der mindestens so sehr Ehe- und Familiendrama wie Krimi ist, zeigt das ZDF morgen.