Gegen den Strom

West-Berlin, 1959, Brandenburger Tor, Hinweisschild: "Achtung! Sie verlassen jetzt West-Berlin"
Foto: imago/Gerhard Leber
Gegen den Strom
Warum Theologen in den fünfziger Jahren in die DDR gingen
In der Nachkriegszeit wanderten Deutsche vornehmlich in eine Richtung: von Ost nach West. Bis 1961 verließen 3,5 Millionen Menschen die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) beziehungsweise die DDR. Doch entgegen diesem Hauptstrom gingen bis zum Mauerbau auch eine halbe Million Menschen in die umgekehrte Richtung. Unter ihnen zahlreiche Theologen - wie der Vater von Angela Merkel.

Die Mehrzahl der Menschen, die in den Nachkriegsjahren von West nach Ost gewandert war, waren Rückkehrer. Unter den Neuzuziehenden und Rückkehrern befanden sich auch zahlreiche Theologiestudierende, Vikare und Vikarinnen, Pfarrer sowie Diakone und Diakonissen. Einer breiteren Öffentlichkeit ist diese besondere Migration nur durch den Fall von Horst Kasner, des Vaters von Bundeskanzlerin Angela Merkel, bekannt.

Die Übersiedlung von kirchlichem Personal und Nachwuchs ist deshalb besonders, weil diese Menschen zwar zwischen zwei Staaten einer Nation wechselten, aber innerhalb einer Organisation blieben, nämlich der gesamtdeutschen Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Im Unterschied zur Übersiedlung in die Bundesrepublik war die kirchliche Wanderung erwünscht. Die ostdeutschen Kirchen hatten daran ein institutionelles Interesse, da auf Grund der Kriegsausfälle, der Überalterung und der wenigen Studienplätze in der DDR akuter Pfarrermangel herrschte. Daher warben die Kirchenleitungen für einen Zuzug und forderten nachhaltig zur Rückkehr im Westen studierender Ostdeutscher auf.

1951 schwärmte der Hallenser Studentenpfarrer Johannes Hamel in einer westdeutschen Zeitschrift vom ostdeutschen Pfarrdienst mit den Worten: "Welcher junge deutsche Theologe sollte sich nicht freuen, dabei zu sein? Und wer unter den westdeutschen Pastoren müsste nicht Sehnsucht danach haben, zu uns zu kommen? So wie der junge Berufsoffizier früher sich oft sehnte nach Zeiten der Bewährung? ... Es ist schwer, oft zu schwer. Aber es ist herrlich. Und wenn ich zu wählen hätte ...".

Doch auch im Westen gab es in der Nachkriegszeit keinen Pfarrerüberschuss. Dies erklärt, warum die westlichen Kirchen auf die Bitten der ostdeutschen Landeskirchen um personelle Hilfe zwar verständnisvoll, aber eher zurückhaltend reagierten. Im Grunde beschränkten sie sich auf Rundschreiben an die Pfarrer mit der Aufforderung, sich freiwillig für den Dienst in einer ostdeutschen Landeskirche zu melden. Mitunter betrachteten Kirchenleitungen die Arbeit im Osten auch als Bewährungsdienst für Pfarrer nach einem Disziplinarverfahren. Die Rückkehr ostdeutscher Theologiestudenten förderten die westlichen Landeskirchen hingegen, zum Beispiel in Form von persönlichem Zuspruch, Befristung von Beschäftigungsaufträgen für ostdeutsche Vikare, die auf die Zuzugsgenehmigung warteten, oder der Übernahme von Reisekosten.

Die EKD appellierte und vermittelte in der Frage der West-Ost-Übersiedlung. Mehrmals bat sie die westdeutschen Landeskirchen, Arbeitskräfte für den kirchlichen Dienst in den östlichen Gliedkirchen freizustellen. An staatliche Stellen der DDR wandte sie sich mit der Bitte, den kirchlichen Personalaustausch zwischen beiden Teilen Deutschlands nicht zu behindern. Doch der Zuzug von kirchlichen Übersiedlern hing von der jeweiligen kirchenpolitischen Strategie des SED-Regimes ab. Sonderregeln regulierten die kirchliche Wanderung. Auch wenn es offiziell bestritten wurde, so wurden doch Zuzugsanträge von kirchlichen West-Ost-Migranten besonders restriktiv gehandhabt. Denn für die SED-Führung handelte es sich dabei um eine politisch nicht erwünschte Einwanderung bzw. Rückwanderung. Mit Ausnahme des diakonischen Bereichs war dieser Zuzug für sie nicht von arbeitsmarktpolitischem Interesse; ihn zu drosseln, erschien vielmehr als eine Möglichkeit, die Kirchen in der DDR zu schwächen und die kirchliche "Westinfiltration" einzudämmen.

Was aber bewegte Pfarrer und Theologiestudenten zu einem Wechsel in die DDR, in eine angespannte politische, ökonomische und kirchliche Situation? Wirtschaftliche Gründe scheiden weitgehend aus, da sich die Migranten im kirchlichen Bereich mit einem Wechsel in die DDR finanziell verschlechterten. Einer kirchenamtlichen Aufforderung folgten allerdings West-Berliner Vikare und Pfarrer, die eine Pfarrstelle in Ost-Berlin oder Brandenburg antraten. Neben beruflichen Gründen konnten auch familiäre Bindungen eine Rolle bei der Entscheidungsfindung spielen. Dies betraf diejenigen, die der Krieg oder die Nachkriegsentwicklung von ihrer Familie getrennt hatte, die sich nun in der DDR befand. In anderen Fällen entschlossen sich junge Theologen zu einer Übersiedlung, um ihre ostdeutsche Verlobte heiraten oder mit ihrer ostdeutschen Ehefrau leben zu können. Nach eigenem Verständnis aber reagierten die meisten Neuzuziehenden auf die Aufforderungen der östlichen Kirchenleitungen, auf Grund des dortigen Pfarrermangels in die DDR zu gehen. Sie sahen in ihrer Entscheidung einen Akt in der Nachfolge Christi. Unter Zurückstellung persönlicher Bedürfnisse wollten sie dorthin gehen, wo die gesellschaftliche Stellung der Kirche umkämpft war und die Gemeinden sie zur Bewältigung ihrer schwierigen Situation dringend brauchten. Dieses individuelle Motiv entsprach dem kirchlichen Deutungsmuster für den Wechsel in den Kirchendienst im sozialistischen Staat. Es zielte auf das spezifische Berufsbild und das Berufsethos des Pfarrers.

Die Tradition der Bekennenden Kirche stärken

Mehrere Neuzuziehenden hegten auch den Wunsch, einer als restaurativ empfundenen kirchlich-theologischen Entwicklung in der jungen Bundesrepublik zu entkommen. Sie standen in der Tradition des bruderrätlichen Flügels der Bekennenden Kirche, der den Kirchenkampf auch als einen Kampf um die Durchsetzung einer von der Theologie Karl Barths bestimmten ekklesiologischen Konzeption verstanden hatte. Diese Neuzuziehenden hofften nun, dass im Osten Deutschlands die Tradition der Bekennenden Kirche für die verfasste Kirche mehr Prägekraft entfalten würde.

Explizit politische Gründe gaben nur sehr wenige Neuzuziehende für ihren Wechsel in die DDR an. Unter den sozialismusaffinen Zuwanderern stand der "Arbeiter- und Bauernstaat" für Bodenreform, das Recht auf Arbeit und Wohnraum, den Abbau von Bildungsprivilegien und vor allem für Antifaschismus.

Und was bewegte diejenigen Theologen, die sich vornehmlich zum Studium jahrelang in den Westzonen und der Bundesrepublik aufgehalten hatten, zur Rückkehr in eine Gesellschaft, die sich in der Zeit ihrer Abwesenheit politisch wie wirtschaftlich stark verändert hatte?  Berufliche Gründe scheiden aus. Die meisten Rückkehrer hätten auch in der Bundesrepublik ein Pfarramt erhalten. Hingegen spielten familiäre und private Gründe eine Rolle. Sie wollten zurück zu den Eltern, den Geschwistern oder der Verlobten. Auch landeskirchliche Bindungen waren von Bedeutung: Man kehrte heim in die Kirche der Vorfahren und der eigenen religiösen Sozialisation; ihr gegenüber fühlten sich die angehenden Theologen verpflichtet. Die meisten Theologiestudierende und Vikare kamen – nach eigenen Angaben – aus religiösen, ekklesiologischen und berufsethischen Motiven in die DDR zurück. Der Hinweis der Kirchenleitungen auf den ostdeutschen Pfarrermangel wurde von allen akzeptiert und von vielen religiös interpretiert. Wie auch viele Neuzuziehende hegten nicht wenige der Rückkehrer den Wunsch, in der DDR die Tradition der Bekennenden Kirche für die verfasste Kirche prägend werden zu lassen. Als Anhänger der Theologie von Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer stärkten sie mit ihrer Rückkehr die Präsenz dieser Theologie in den ostdeutschen Kirchen.

Einige der Übersiedler machten später in der DDR Kirchenkarriere, darunter die Bischöfe Johannes Hempel, Werner Krusche, Heinrich Rathke, Werner Leich und Gottfried Forck.