Sehnsucht nach Normalität

epd-bild/Norbert Neetz
Liebesschlösser in Frankfurt am Main
Sehnsucht nach Normalität

Liebe und Sexualität sind für Menschen mit Behinderung bis heute oft ein Tabuthema. Eine spezialisierte Anlaufstelle in Mainz will das ändern.

Mainz (epd)Manchen Hilfesuchenden können Lotta Brodt und ihr Kollege Lennart Seip schnell helfen. Dem verzweifelten Pärchen, das sich auf einer Party kennengelernt hatte, reichte schon der Hinweis, dass unterschiedlicher Musikgeschmack eine Freundschaft nicht unmöglich mache. Andere Anliegen sind deutlich schwieriger. Seit einem halben Jahr sind die beiden Sozialpädagogen Ansprechpartner in der "Liebelle" in Mainz. Die Beratungsstelle zu den Themen Partnerschaft und Sexualität richtet sich speziell an Menschen mit geistiger Behinderung.

Gegenseitige Besuche sind Problem

In dem gemütlich eingerichteten Büro auf dem Gelände der Mainzer Werkstätten für behinderte Menschen (WfB) wird offen und vertraulich über alles gesprochen, was die Besucher bewegt. Bei Menschen mit Behinderung sind der Wunsch nach einer Partnerschaft, Liebeskummer und erst recht selbst erlebte Übergriffe oder Fälle sexualisierter Gewalt meist mit starken Tabus belegt. Da viele Behinderten-Einrichtungen zurzeit eigene Konzepte zum Umgang mit Sexualität entwickeln, Mitarbeiter aber zuweilen ebenfalls nicht wissen, wie sie mit Problemen umgehen sollen, richtet sich die "Liebelle" ausdrücklich auch an Integrations-Fachkräfte.

Oft drehen sich Gespräche um die Probleme, mit einem anderen Menschen in Kontakt zu kommen oder Streitigkeiten zu regeln. "Manche treffen jemanden, der ihnen gefällt, haben sich noch gar nicht vorgestellt, fragen aber sofort: 'Willst du meine Freundin werden?'" berichtet Lotta Brodt. Anderen Besuchern der "Liebelle" wiederum fehle der Mut, jemanden anzusprechen. "Häufig wünschen sich die Menschen eine Partnerschaft mit jemandem ohne Behinderung, weil sie sich davon mehr Normalität erhoffen. Das ist ein ganz schwieriges Thema."

In der Realität entstehen viele Partnerschaften zwischen behinderten Menschen dort, wo auch ihr Alltag abläuft - in den Werkstätten. "Die meisten haben eine Partnerschaft mit einem Kollegen oder einer Kollegin", sagte Lennart Seip. Sogar das ist aber oft eine äußerst komplizierte Angelegenheit: Zwar haben auch Menschen mit Behinderung das Recht auf private Treffen mit Personen ihrer Wahl. Ebenso haben sie das Recht, bei einem Partner zu übernachten. Dass behinderte Menschen, die sich mögen, Zeit miteinander verbringen, ist dennoch alles andere als selbstverständlich. Wenn beide beispielsweise in verschiedenen Einrichtungen leben, werden bereits gegenseitige Besuche zum Problem.

Lücke füllen

Ein Umzug aus Liebe ist nicht zuletzt von der Zustimmung der rechtlichen Betreuer abhängig. "Das sind Grenzen, die wir in unserem Leben gar nicht kennen", sagt Petra Hauschild, Bereichsleiterin bei den WfB in Mainz. In dieser Einrichtung seien von 600 behinderten Mitarbeitern weniger als zehn verheiratet, obwohl viele sich einen Ehepartner wünschten.

Dabei seien viele Ratsuchende anfangs überzeugt davon, dass Ehe und Kinder unverzichtbarer Teil einer Partnerschaft sein müssten, berichtet Brodt: "Wir klären darüber auf, dass das nicht unbedingt sein muss. Viele sind dann auch erleichtert." Manche Menschen fragen nach Verhütung, der Wunsch nach eigenen Kindern sei bei den bisherigen Beratungsthemen kein zentrales Thema gewesen. Immer, wenn es um eine ernsthafte Partnerschaft geht, gebe es in der "Liebelle" auch Platz, um die Ängste von Angehörigen offen anzusprechen. Die Eltern behinderter Kinder, die sich oft auch nach deren Volljährigkeit um sie kümmerten, gingen höchst unterschiedlich mit dem Thema um.

Die "Liebelle" in Mainz startete Ende Juni mit Unterstützung von "pro familia" und der Hochschule Darmstadt. Mittlerweile sind die Verantwortlichen sich sicher, dass sie mit ihren Seminaren und Beratungsangeboten eine Lücke füllen. Zwar gebe es in Einrichtungen wie den WfB seit jeher einen Werkstatt-Sozialdienst, bei dem auch persönliche Sorgen besprochen werden könnten. Aber optimal sei so eine Lösung nicht, ist Petra Hauschild inzwischen sicher: "Ich würde mich auch nicht mit Vorgesetzen über so private Dinge beraten."