"Jeder hat hier sein Päckchen zu tragen"

Ein minderjähriger Flüchtling sitzt in einem Zimmer (Symbolfoto).
Foto: picture alliance/dpa/Daniel Karmann
Ein Jumge in einer Erstaufnahmeeinrichtungen für minderjährige Flüchtlinge.
"Jeder hat hier sein Päckchen zu tragen"
Sie haben Folter und Missbrauch überlebt. Doch in Erstaufnahmeeinrichtungen können jugendliche Flüchtlinge einen neuen Anfang machen.

Damirs Augen sind rot vom Weinen. Er sorgt sich um seinen Vater, der weit weg von Gießen lebt, im kaputten, zerbombten Syrien. Ob er helfen könne, fragt der Direktor der Gießener Caritas, Joachim Tschakert. Damir (Name geändert) zuckt nur die Schultern.

Der 16-Jährige ist allein geflohen und in Gießen gestrandet. Er lebt mit anderen jungen Flüchtlingen in einem Wohnheim der Caritas. In Gießen und Frankfurt am Main sind die hessischen Erstaufnahmestellen für minderjährige Flüchtlinge. Im Auftrag des Jugendamtes macht in Gießen die Caritas das sogenannte "Clearing", also die erste Klärung der Situation. In Frankfurt betreut die Arbeiterwohlfahrt die Flüchtlingskinder.

Mehr als 220 Plätze stehen der Gießener Caritas zur Verfügung, doch sie reichen bei weitem nicht aus: Allein von Januar bis Mai reisten mehr als 1.200 junge Flüchtlinge in Hessen ein, 885 nahmen die Jugendämter in Obhut. Direkt nach ihrer Ankunft erhalten sie eine medizinische Grundversorgung mit Blutabnahme, Röntgen der Lunge und Impfungen. Für 300 Euro bekommen sie eine erste Ausstattung: Schuhe, Klamotten, Turnbeutel, Zahnbürste. "Die Jugendlichen schlafen anfangs sehr viel", erzählt Tschakert. "Sie sind fertig von der Flucht."

Die Caritas verteilt die Jugendlichen auf Wohngruppen. Das Durchschnittsalter beträgt 16 Jahre. Das jüngste Flüchtlingskind, sechs Jahre alt, kam in Begleitung seines Cousins, die Eltern ertranken vermutlich auf der Flucht im Mittelmeer. Viele stammen aus Syrien und Afghanistan. "Vor allem bei Syrern erleben wir oft, dass der älteste Sohn vor der Einberufung durch den Islamischen Staat gerettet werden soll", berichtet Tschakert.

Manche sind Folteropfer des IS

Tschakert nimmt einen Jugendlichen in den Arm. "Besser heute?", fragt er. Doch ein Blick in die traurigen Augen verrät, dass nichts besser ist. "Jeder hat hier sein Päckchen zu tragen", sagt Tschakert. Er kennt viele Geschichten des Grauens: vom Freund, dessen Hand abgehackt wurde, weil er rauchte. Der Junge, Folteropfer des Islamischen Staats, der mit gebrochenen Armen und Beinen ankam und gleich in die Uniklinik eingeliefert werden musste. Zwei Jugendliche hatten Krebs, viele wurden auf der Flucht missbraucht, einige kommen "rappeldürr" und faltig wie alte Männer in Gießen an.

In Deutschland sollen die Flüchtlingskinder schnell Normalität erleben. "Sie sollen den Kopf heben und wieder zum Horizont schauen", sagt Heimleiter Ulrich Dorweiler. Schon am zweiten Tag beginnt der Deutschunterricht. "Spielen und Kindsein spielt eine große Rolle." Frisbee an der Lahn, Sport in der Turnhalle, Schwimmen, Musik, Malen und Ausflüge in die Region, um zu sehen: "Wo bin ich hier eigentlich?"

Die Jugendlichen werden rund um die Uhr betreut. Mitarbeiter kommen oft von der Universität, zum Beispiel Master-Studenten, die mit einer halben Stelle Berufserfahrung sammeln. Sie seien leicht zu finden, sagt Tschakert: "Man kriegt ja so viel zurück."

Mithilfe im Alltag ist selbstverständlich

Eine Gruppe junger Syrer steht im Flur des Wohnheims. Einer wischt den Boden der Toiletten. Mithilfe im Alltag gehört zu den Aufgaben, auch wenn die jungen Männer das aus ihrer Heimat vielleicht nicht kennen. Die Jungs sind ungeduldig, sie wollen weg aus der Erstaufnahme.

Nach dem Clearing werden sie auf die Kommunen verteilt. Dort beginnt auch der Schulbesuch. Er wolle endlich sechs oder sieben Stunden am Tag zur Schule gehen, sagt Amir. "Hier sind wir zu viele in der Gruppe." Er lebt schon seit drei Monaten in der Clearing-Gruppe, eigentlich sollten die Jugendlichen nach sechs Wochen in die Kommunen vermittelt werden. Doch es fehlen Heimplätze.

"Es ist nicht ganz einfach, eine Wohngruppe aufzumachen", erklärt Dorweiler. Von der Suche bis zur Eröffnung vergeht oft ein Jahr. Ab Januar sollen die jungen Flüchtlinge genau wie die Erwachsenen nach einem bestimmten Schlüssel gerechter auf die Bundesländer verteilt werden. Matthias Pfeil, Fachbereichsleiter bei der AWO Hessen-Süd, sieht das kritisch: Es bedeute eine "mehrfache Entwurzelung" der jungen Menschen.