"Syrische Christen fühlen sich vom Westen verraten"

"Syrische Christen fühlen sich vom Westen verraten"
Mehr als sechs Prozent der Bevölkerung im Krisenland Syrien sind Christen. Sie haben Angst, in dem Konflikt zwischen dem Regime des alawitischen Clans von Präsident Baschar al-Assad und der mehrheitlich sunnitischen Protestbewegung unter die Räder zu geraten. Das Oberhaupt der mit Rom unierten Syrisch-Katholischen Kirche, Patriarch Ignatius Joseph III. Younan, wirft westlichen Regierungen vor, sie opferten die Rechte der Minderheiten in Nahost ihren geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen.
19.01.2012
Die Fragen stellte Anne-Béatrice Clasmann

Es gab in den vergangenen Monaten unter den Vertretern der syrischen Kirchen Diskussionen darüber, wie sich die Christen in dem Konflikt zwischen Präsident Assad und der Protestbewegung positionieren sollten. Wie ist der aktuelle Stand der Debatte?

Ignatius Joseph III.: "Wir, die Christen des Nahen Ostens, sind enttäuscht von der Politik der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten. Denn wir stellen fest, dass die Europäer und die Amerikaner die Fragen des Nahen Ostens nur unter politischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten sehen. Sie sind zu dem Schluss gekommen, dass es unvermeidbar ist, dass in diesen Ländern islamische religiöse Fanatiker an die Macht kommen werden, und sie haben resigniert. Wir Christen fühlen uns von ihnen verraten."

Was sagen Sie zum Vorwurf der Opposition, die christlichen Kirchen in Syrien unterstützten das Regime, obwohl dieses die Menschenrechte missachte?

Ignatius Joseph III.: "Ja, man wirft uns vor, auf der Seite des Regimes zu stehen, aber wir wollen letztlich nur erreichen, dass unsere Gemeinden in Frieden leben können. Und wir haben immer das Negativbeispiel des Irak vor Augen, wo viele unserer Glaubensbrüder auswandern mussten."

"Gibt es einen Konflikt und die Sicherheitskräfte
wollen die Ruhe in einem Viertel wiederherstellen,
geht es nicht ohne den Einsatz von Gewalt"

 

Einige syrische Christen sagen, sie könnten sich aus religiösen Gründen nicht mit einem Regime solidarisieren, das Gewalt ausübt und Kinder töte?

Ignatius Joseph III.: "Dies ist ein totalitäres Regime, das kann man nicht leugnen. Das ist bedauerlich. Doch es gibt in Syrien keine Erziehung zur Demokratie, bis auf eine kurze Phase nach dem Ende der Kolonialzeit hatten wir nie Demokratie. Es stimmt, dies ist ein Polizeistaat und es gibt viele politische Gefangene. Doch wenn es einen Konflikt gibt und die Sicherheitskräfte wollen die Ruhe in einem Viertel wiederherstellen, dann geht es nicht ohne den Einsatz von Gewalt."

Haben sie mit westlichen Regierungen, die auf einen Sturz des syrischen Regimes setzen, gesprochen, um auf die Situation der Christen hinzuweisen?

Ignatius Joseph III.: "Im vergangenen Mai traf ich in Paris den französischen Außenminister Alain Juppé. Und ich habe festgestellt, dass Frankreich und die Europäische Union eine vorgefasste Meinung von dem Baath-Regime in Syrien haben. Sie denken, dass dies ein Monster-Regime ist, das seine Bürger tötet. Ja, es gab und gibt Massaker. Nur von den Hunderttausenden Toten, die es im Irak (nach der US-Invasion) gab und von den Zehntausenden, die zuletzt in Libyen starben, von denen spricht niemand."

Wie könnte eine Lösung des Konflikts in Syrien denn aussehen, jetzt wo so viele Menschen gestorben sind, was eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt in Gang gesetzt hat?

Ignatius Joseph III.: "Es sollte einen Dialog geben. Doch leider gibt es in unserer Gesellschaft noch das Konzept der Rache. Und es ist auch nicht so wie in der Türkei, wo es eine islamische Partei an der Regierung gibt, die aber Andersdenkenden gegenüber eine gewisse Toleranz zeigt. Warum soll man nicht einen Dialog führen? Weil es 5.000 Tote gab? Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem es Millionen von Toten gab, haben Deutschland und Frankreich auch einen Dialog geführt."

dpa