Gedanken zur Woche: Verrückt…

Gedanken zur Woche: Verrückt…
Das Gutachten zu Anders Breiviks Geisteszustand hat nicht nur in Norwegen eine heftige Debatte ausgelöst. Wohin mit der Wut auf einen Massenmörder, fragt Pfarrer Jörg Machel in der Morgenandacht des Deutschlandfunk.
02.12.2011
Von Jörg Machel

Verschwindet Schuld, wenn ein Täter verrückt ist? Und wohin? Wo bleibt sie? Der Mensch, der eine Tat begangen hat, ist ja noch da! Es wurde laut am Frühstückstisch, als wir über diese Fragen diskutierten. Eine Nachrichtenmeldung hatte sie auf den Tisch gebracht: Zwei Gerichtsgutachter hatten Anders Behring Breivik, den Attentäter von Oslo und Utöya, für unzurechnungsfähig erklärt.

Es fiel uns schwer, bei einem solchen Verbrechen sachlich zu bleiben. Noch dazu, wo es uns sehr persönlich bewegt: Der Patenjunge meiner Frau lebt mit seiner Familie in Oslo, er geht dort zur Schule und wir haben nach dem Attentat ständig neue Nachrichten von ihm bekommen. Der Bruder eines Klassenkameraden wurde auf der Insel Utöya ermordet, zwei Bekannte konnten nur mit knapper Not ihr Leben retten.

Gibt es jetzt keinen Schuldigen an diesem Massaker?

Was heißt es eigentlich, diskutierten wir am Frühstückstisch, dass Breivik für unzurechnungsfähig erklärt wird? Gibt es jetzt keinen Schuldigen an diesem Massaker, gibt es niemanden, den man zur Verantwortung ziehen kann? Wahrscheinlich kommt der Attentäter in eine Klinik, vielleicht sogar lebenslänglich. Aber vielleicht muss er irgendwann einmal nach erfolgreicher Behandlung entlassen werden. Schon der Gedanke daran brachte uns in Rage. Wir merkten: Es ist verstörend und schmerzhaft, wenn wir nach der Diagnose "psychisch krank" keinem mehr die Schuld für so viel Leid zuweisen können. Wenn wir eigentlich sogar gezwungen sind, Mitgefühl zu haben mit einem psychisch kranken Menschen.

Mitgefühl für diesen Mörder? – das ist uns nicht gelungen am Frühstückstisch. Irgendwie hatten wir das Gefühl, dass man mit einem psychiatrischen Gerichtsgutachten allein das ganze Ausmaß eines solchen Verbrechens nicht in den Blick bekommt. Wenn wir mit den Gutachtern nur darüber nachdenken, ob der Täter ein pathologischer Fall ist – sind wir dann nicht in der Gefahr, die Frage auszublenden, was die Gesellschaft damit zu tun haben könnte?

Klagepsalme als hilfreiches Ventil für die Wut

Wir müssen uns z.B. überlegen, ob extremer Nationalismus und fundamentalistisches Christentum eine besonders gefährliche Mischung sind – bei Breivik war es ja so. Und wir stellten uns auch die Frage, ob bei einem islamischen Attentäter eine ähnliche Expertise zustande gekommen wäre. Da schien es uns viel wahrscheinlicher, dass man die Verrücktheit eines solchen Attentats nicht dem kranken Geist des Täters, sondern seiner kaputten Ideologie oder seinem Irrglauben zugeschrieben hätte.

Natürlich werden wir uns vor Menschen wie Anders Behring Breivik schützen müssen, egal ob sie krank sind oder bei klarem Verstand. Doch wir werden auch einen Weg finden müssen, die Folgen seiner Untat loszuwerden: Etwa unsere Wut auf einen Massenmörder. Sonst richtet so eine Wut vielleicht sogar noch weitere Untaten an.

In der Bibel gibt es die Klagepsalmen, in ihnen überläßt man es Gott, Rache zu nehmen für alles Leid, das einem angetan wurde. Lange konnte ich mit solchen Psalmen wenig anfangen. In meiner Hilflosigkeit über dieses Attentat und diesen Attentäter sind sie allerdings, das merke ich jetzt, ein hilfreiches Ventil für meine Wut: "Gott, bring sie doch alle um, die dich und deine Gebote missachten! Halte mir diese Mörder vom Leib! Sie reden Lästerworte gegen dich; Herr, deine Feinde missbrauchen deinen Namen!" Psalm 139


Jörg Machel ist Pfarrer in Berlin. Bei dem vorstehenden Text handelt es sich um die "Gedanken zur Woche", die der Deutschlandfunk am Freitagmorgen, 2. Dezember, gesendet hat.