Siegen heiligt den "Sabbattag": Geschäfte bleiben sonntags zu

Siegen heiligt den "Sabbattag": Geschäfte bleiben sonntags zu
Einkaufsbummel am Sonntag wird es in Siegen nächstes Jahr nicht geben. Im Rat der südwestfälischen Stadt haben sich diejenigen zu einer Mehrheit zusammengefunden, die die Arbeitsruhe am Sonntag hoch halten - sei es aus Arbeitnehmerfreundlichkeit oder aus christlicher Überzeugung. Alle sieben geplanten verkaufsoffenen Sonntage für 2012 wurden abgelehnt. Die Geschäftsleute sind fassungslos, die Kirchen ein wenig verwundert.
29.11.2011
Von Anne Kampf

"Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt." Das dritte Gebot nach 2. Mose 20,8-11.

In Siegen, einer Stadt im südöstlichen Zipfel von Nordrhein-Westfalen, werden zumindest Verkäuferinnen und Verkäufer das Sabbatgebot wieder befolgen können: Weder in der Innenstadt noch in den Randbezirken werden die Läden nächstes Jahr an einem Sonntag öffnen. Laut dem nordrhein-westfälischen Ladenöffnungsgesetz wären insgesamt 16 verkaufsoffene Sonntage in der Stadt möglich - pro Marktbezirk vier. Dass mit sieben nur knapp die Hälfte davon zur Debatte stand, war schon ein Kompromissvorschlag.

Der Rat hat geheim abgestimmt. Das macht deutlich, welche Brisanz das Thema in Siegen hat, gerade für die größte Fraktion, die CDU. Unter den Christdemokraten gibt es überzeugte Christen, denen das Sabbatgebot wichtiger ist als die Stärkung des Handels - eine Gewissensfrage. In der SPD dürften in ähnlicher Weise Wirtschafts- und Gewerkschaftsinteressen gegeneinander stehen. Die Grünen und die Linken im Siegener Rat sind gegen verkaufsoffene Sonntage. Obwohl die Mehrheit schon im vergangenen Jahr knapp ausgefallen war, hatte niemand damit gerechnet, dass sie dieses Jahr kippt: 30 Stimmen für die verkaufsoffenen Sonntage, 34 dagegen. Das hat alle überrascht - auch die Kirchen.

"Der Sonntag soll nicht zu einem weiteren Werktag gemacht werden"

Mit schöner Regelmäßigkeit werden der evangelische Kirchenkreis Siegen und das Dekanat Siegen im Erzbistum Paderborn um Stellungnahmen zur Ladenöffnung gebeten. Auch diesmal wieder hatte Detlef Metz, Theologischer Referent der Superintendentin, dargelegt: "Der Mensch lebt eben nicht nur von seiner Arbeit, vom Kommerz, sondern er soll zur Besinnung kommen. Wir verdrängen ja viele Fragen nach dem Tod oder nach dem Sinn des Lebens und stürzen uns statt dessen in den Trubel."

Für die katholische Kirche erklärt Dekanatsreferent Hermann-Josef Günther: "Der Sonntag soll nicht zu einem weiteren Werktag gemacht werden. Er soll dafür da sein, freundschaftliche und familiäre Beziehungen zu pflegen, in den Gottesdienst zu gehen. Wir glauben dass die Menschen solche Freiräume brauchen."

Siegen ist berühmt für "die steilste Fußgängerzone der Welt". In der Oberstadt befinden sich Mode-, Schmuck-, Feinkost- und Geschenkeläden. Foto: Stadt Siegen.

Die Gegner des Sonntags-Einkaufens haben sich in Siegen zu einer "Allianz für den freien Sonntag" zusammengeschlossen. Dazu gehört neben den beiden großen Kirchen auch die Gewerkschaft verdi, deren Bezirksgeschäftsführer Jürgen Weiskirch hinter der Sonntagsöffnung reine Geschäftsinteressen vermutet. Die Katholische Arbeitnehmerbewegung KAB vereint gewerkschaftliche und religiöse Argumente. Allianz-Sprecher und KAB-Mitglied Gerhard-Cimiotti hat den Ratsbeschluss "mit sehr großer Erleichterung und Freude" aufgenommen.

"Entsetzt" ist dagegen die Geschäftsführerin der Gesellschaft für Stadtmarketing Astrid Schneider, gleichzeitig Pressesprecherin der Stadt Siegen. "In Siegen ist der Fundamentalismus ausgeprägt", ärgert sie sich über die Sonntagschutz-Koalition im Rat, "Wir haben eine unselige Allianz aus christlich-pietistischen Politikern, gewerkschaftlich Orientierten und dem ganz linken Flügel."

Menschen kommen aus der Region

Das Oberzentrum Siegen (rund 100.000 Einwohner) will als Einkaufsstandort mithalten, will die Kundschaft nicht nach Olpe, Köln, Gießen oder Frankfurt abwandern lassen. Verkaufsoffene Sonntage sind nicht unbedingt besonders umsatzstarke Verkaufstage, sondern "der Sonntag ist in erster Linie ein Schautag", erklärt Astrid Schneider, "Nachweislich kommen die Leute an Sonntagen um Elektrogeräte, Möbel, Autos auszusuchen."

Das bestätigt auch Klaus Willmers, Hauptgeschäftsführer des Einzelhandelsverbandes Südwestfalen. "Manche Kunden sind durchaus bereit, sich eine Stunde ins Auto zu setzen, um auch mal was anderes zu sehen. Deshalb kommt Kaufkraft aus der Region nach Siegen." An den verkaufsoffenen Sonntagen waren bisher jeweils um die 40.000 Kunden in der City-Galerie Siegen, dem größten Einkaufszentrum der Stadt. Center-Manager Michael Dittrich erzählt, viele Verkäuferinnen würde freiwillig sonntags arbeiten - weil es entspannter sei als an anderen Tagen, und weil es Lohnzuschläge gibt.

Die Siegener Kaufleute haben schon über ein Bürgerbegehren nachgedacht, um den Ratsbeschluss zu kippen - das erschien den Händlern dann aber doch unverhältnismäßig. Die Siegener CDU hat inzwischen per Straßenumfrage versucht herauszufinden, was die Bevölkerung eigentlich will. Das Ergebnis: "Sehr unterschiedlich", so Fraktionschefin Ute Höpfner-Diezemann. "Die Generation von 60 aufwärts ist eher kritisch, was verkaufsoffene Sonntage betrifft, und die jüngeren Leute reagieren durchweg mit großem Unverständnis auf den Ratsbeschluss."

"Es gibt ja keinen Einkaufszwang"

Auch Astrid Schneider kann das Problem nicht wirklich nachvollziehen. Jedem stehe es doch frei, die verkaufsoffenen Sonntage zu nutzen oder auch nicht, "es gibt ja keinen Einkaufszwang. In die Kirche kann ja auch der gehen, der hinter der Ladentheke steht." Die Ladenöffnungszeit beginnt mit Rücksicht auf die Gottesdienste erst um 13 Uhr, und an den hohen Feiertagen dürfen die Geschäfte ohnehin nicht öffnen.

Doch den Kirchen geht es um Erholung am ganzen Sonntag, nicht nur zwischen 10 und 11 Uhr. Vor zwei Jahren gab es sogar ein Verfassungsgerichtsurteil dazu: Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und das Erzbistum Berlin hatten gemeinsam Verfassungsbeschwerde eingelegt, weil sie vier verkaufsoffene Adventssonntage in Berlin für zu viel hielten.

Die Kirchen beriefen sich auf die Religionsfreiheit und das Recht auf ungestörte Religionsausübung in Artikel 4 des Grundgesetzes sowie auf Artikel 140 beziehungsweise den darin enthaltenen Artikel 139 der Weimarer Reichsverfassung: "Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt." Sie bekamen Recht. Die Geschäfte in Berlin sind jetzt nur noch am 2. und am 4. Adventssonntag geöffnet.

Ähnlicher Fall 2010 in Aachen: Kompromisse sind möglich

In Nordrhein-Westfalen fahren evangelische und katholische Kirche eine Kompromisslinie. Fast zeitgleich mit dem Siegener Ratsbeschluss veröffentlichten sie gemeinsam mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund eine Erklärung, in der sie eine Überarbeitung des nordrhein-westfälischen Ladenschlussgesetzes fordern. Vier verkaufsoffene Sonntage pro Jahr seien für eine ganze Stadt angemessen - nicht vier pro Marktbezirk.

Kompromisse sind also möglich - und in Siegen jetzt wohl "der einzige Weg den man gehen kann", meint die CDU-Fraktionschefin Höpfner-Diezemann. Auch die Kirchen signalisieren Diskussionsbereitschaft: "Man muss auch die anderen Argumente hören: Arbeitsplätze zum Beispiel, das darf man nicht als unbedeutend abtun", sagt Hermann-Josef Günther vom Dekanat. Auch sein evangelischer Kollege Detlef Metz meint: "Ich kann die verstehen - vor allem die kleinen Einzelhändler."

So geht der Streit um verkaufsoffene Sonntage in der Provinzstadt nun in die zweite Runde. Drei Tage vor Heiligabend findet die letzte Ratssitzung des Jahres statt - mit einem neuen Antrag zu den verkaufsoffenen Sonntagen im Jahr 2012 und möglicherweise einem weiteren (wenig weihnachtlichen) Schlagabtausch. Ganz beispiellos ist der Streit übrigens nicht: In Aachen lehnte der Stadtrat im März 2010 die beantragten 17 verkaufsoffenen Sonntage für das vergangene Jahr zunächst ab. Nach langer Diskussion wurden aber dann doch 13 erlaubt. Auch für die Aachener Politiker war es eine Gewissensentscheidung.


Anne Kampf ist Redakteurin bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Politik und Gesellschaft.