Stuttgart 21: Die Hoffnung stirbt zuletzt

Stuttgart 21: Die Hoffnung stirbt zuletzt
Kurz vor der Abstimmung über das Projekt Stuttgart 21 ist die Stimmung in der Landeshauptstadt Baden-Württembergs gemischt. Die einen können das Thema nicht mehr hören, die anderen sind euphorisch, weil sie glauben, dass der Bürgerwille eine Chance hat. Und die Dritten sind skeptisch. Was gerade aber überwiegt, ist die Freunde auf Weihnachten und über das gute Wetter.
25.11.2011
Von Maike Freund

Tiefblau spannt sich der Himmel über dem Neuen Schloss. Die Blätter an den Bäumen im Schloßgarten tanzen rot und gelb und braun im Wind. Jede Bank ist belegt, die Menschen haben den Kopf in den Nacken gelegt, Schal und Mütze abgelegt, die Jacke aufgeknöpft und blinzeln in die Sonne. Hinten ist die Eisbahn schon aufgebaut. Ein einsamer Läufer zieht dort kleine Runden. Aus den Lautsprechern kommt Musik und weht herüber bis zum Brunnen. Irgendetwas Weihnachtliches, Beruhigendes. Es wirkt wie Urlaub. Furchtbar idyllisch. Stuttgart in der Woche vor dem entschiedenen Sonntag. Dem Sonntag, an dem die Baden-Württemberger über das Projekt Stuttgart 21entscheiden. Über die Frage: Gehen die Umbauarbeiten weiter oder nicht. 

An jedem Laternenfahl in der Innenstadt hängt ein Plakat – wenigstens auf der Königstraße – der Shoppingmeile. "Ja zum Ausstieg" heißt es auf den einen. "Für Stuttgart 21 heißt Nein" auf anderen. Das Kuriose: Wer gegen das Projekt ist, muss muss am Sonntag mit "Ja" zum Ausstieg aus der Finanzierung stimmen, wer dagegen ist mit "Nein". Die Stuttgarter scheint das nicht zu interessieren. Vor den Plakaten bleibt kaum einer stehen. Und wenn doch, ist es ein Tourist. 

Stuttgart Innenstadt, Calwerstraße, ein paar hundert Meter weiter. Hier hängen keine Plakate, vielleicht weil hier nicht so viel los ist. Gesprächsfetzen wehen herüber: "…kam der doch echt zu mir und hat mich gefragt: Wie stehst du denn nun zu Stuttgart 21?" Zwei junge Frauen stehen vor einem Einrichtungsladen, die eine an ihr Fahrrad gelehnt. "Und?" Sie verdreht nur die Augen. "Nerv mich nicht", hab ich gesagt. "Ich bin froh, wenn die Abstimmung rum ist. Ich will endlich mal wieder über was anderes reden."

Unser Bahnhof ist echt keine Schönheit

Wo keine Plakate hängen – vor dem Landtag, am Neuen Schloss, im Schloßgarten – haben Aktivisten mit Kreide Wahlsprüche auf das Pflaster gemalt. Welche Seite im Match um ja oder nein überwiegt? Keine von beiden. "Gehen Sie am Sonntag zur Abstimmung?" Ein Mann auf einer Bank schaut auf. "Na klar", sagt er. "Für den Ausstieg oder dagegen?" "Dagegen", sagt er. "Warum?" "Wir haben schon so viel Geld investiert. Jetzt soll es endlich weiter gehen…Und unser Bahnhof ist echt keine Schönheit." Dann schließt er wieder die Augen und hält sein Gesicht der Sonne entgegen. 

Vor dem Rathaus stehen in Reih und Glied die Buden des Weihnachtsmarkts. Der eröffnet heute. Noch wird an den Hütten gearbeitet. Plakate gibt es auch hier – wenn auch nur noch vereinzelt. Denn längst haben Engel, Lichterketten, überdimensionierte Kugel, Lametta und Kunstschnee die Werbung für oder gegen den Bahnhofsumbau verdrängt. "Die Abstimmung? Hören Sie, ich muss hier fertig werden", sagt eine Frau und räumt Kisten in einen der Stände. "Das wird heute Abend hier die Hölle…" "Gehen Sie zur Abstimmung?" Aber sie antwortet schon nicht mehr. 

Stuttgart, Bahnhof: Die meisten Passanten hasten durch die Halle, manche Schlendern. Ein Mann mit Einkaufstüten wartet vor einer Bäckerei. Wie bei ihm gerade die Stimmung ist? "Gut", sagt er. "Ich freue mich auf Weihnachten." Er deutet auf seine Tüten. "Ich habe schon Geschenke gekauft". Ob er weiß, wo hier im Bahnhof Plakate für S21 hängen? "Nein", sagt er. Und tatsächlich muss man sehr genau hingucken, damit die Werbung am Ende jedes Gleises auffällt. 

"Der neue Stuttgarter Bahnhof. Schneller, komfortabler, zukunftsorientiert"

Nordausgang, Bahnhofsvorplatz, Stuttgarter Innenstadt. Hier ist der Zaun, die Stuttgarter Klagemauer, an dem die Bürger ihre Portest-Plakate geheftet haben. "Würden morgen hier die Bagger fahren, würde ich trotzdem hier und heute an dieser Stelle einen Baum pflanzen", steht auf einem. Dahinter prangt ein riesiges Banner der Bahn. "Der neue Stuttgarter Bahnhof. Schneller, komfortabler, zukunftsorientiert." Die Passanten hasten vorbei.

[listbox:title= Stuttgart 21[Im Februar begannen die Umbauarbeiten des Stuttgarter Bahnhofs, die aus dem jetzigen Kopfbahnhof einen Tiefbahnhof machen sollen. Das gemeinsame Projekt von Deutsche Bahn, der Bundesrepublik Deutschland, dem Land Baden-Württemberg und der Region Stuttgart soll bis 2019 fertig gestellt werden. Zurzeit sind die Bauarbeiten unterbrochen, denn zehntausende Bürger demonstrierten immer wieder gegen die Umbaumaßnahmen - gegen Stuttgart 21, kurz S21. Nach einem gescheiterten Bürgerbegehren und einem Schlichtungsversuch sollen die Bürger nun am Sonntag darüber abstimmen, ob das Land den Umbau weiter finanzieren soll. Allerdings verlangt die Verfassung Baden-Württembergs ein Quorum von 33 Prozent der Wahlberechtigten. Sollte dies nicht erreicht werden, hat Bahnchef Rüdiger Grube bereits angekündigt, dass dann die Bauarbeiten am Bahnhof am Montag weiter gehen werden.]]

Vor der Mahnwache steht ein Mitarbeiter des Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND). "Wir sind ganz schön erschöpft", erzählt er. Immerhin stehen sie seit vielen Monaten hier. Und auch bei vielen der Demonstranten, die immer montags dabei wären, sei die Luft raus. Aber lockerlassen wollen sie alle nicht. "Denn endlich haben die Bürger die Chance, Demokratie mitzugestalten." Wie er die Lage am Sonntag einschätzt? Es wird wohl – wenn überhaupt – nur zu einer einfachen Mehrheit kommen. Und dann? "Dann ist die spannende Frage, was Herr Kretschmann machen wird." Wenn er trotzdem weiterbauen lässt? "Dann würde er den Willen der Bürger mit Füßen treten."  

"Es ist die Wahl zwischen Pest und Cholera", sagt Guntrun Müller-Enßlin. Sie ist eine, die sich für den Ausstieg engagiert hat. Die Pfarrerin der Wolfbuschgemeinde in Stuttgart-Weilimdorf meint den Ausgang der Abstimmung. Denn das Quorum – ein Drittel der Wahlberechtigten – sei viel zu hoch. Und selbst wenn es eine einfache Mehrheit geben sollte, auch dann habe Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) schon angekündigt, zu bauen. Pest oder Cholera eben. Sie erlebt, dass sie viele Stuttgart 21-Gegner euphorisch sind und voller Hoffnung. Ihre eigene Stimmung ist gedämpft; sie ist skeptisch, weil es keinen Plan B gibt, falls am Montag tatsächlich wieder gebaut wird.

Die Landeskirche hält sich bei dem Thema Stuttgart 21 zurück – sie ist "neutral"

Also alles umsonst? "Nein, umsonst nicht", sagt sie. Aber enttäuscht ist sie schon. Nicht nur über den möglichen negativen Ausgang der Abstimmung. Sondern auch darüber, dass es überhaupt so weit kommen musste. "Die Regierung hätte schon bei der Schlichtung oder dem Stresstest eingreifen müssen", sagt sie. 

In ihrer Predigt am Sonntag wird sie das Thema nicht streifen. Dazu hat der Stuttgarter Stadtdekan Hans-Peter Ehrlich aufgefordert. Die Landeskirche hält sich bei dem Thema Stuttgart 21 zurück – sie ist "neutral". Die Begründung: "Stuttgart 21 ist ein Thema, für das wir kein Mandat haben", sagt Medienpfarrer des evangelischen Kirchenkreises Stuttgart Christoph Schweizer. Denn es sei politisch. Guntrun Müller-Enßlin ist das zu wenig. Sie meint: "Es gibt keine Neutralität. Wer sagt, er sei neutral, stellt sich automatisch auf die Seite der Macht." Die Bibel fordere aber dazu auf, auf der Seite der Schwachen zu stehen. Und das seien in diesem Fall die Gegner von Stuttgart 21. 

Universität, Stuttgart Innenstadt, nahe Hauptbahnhof: Plakate hängen auch hier. "Uschi macht Party" steht darauf. Vor der Philosophischen Fakultät gibt es aber auch einige wenige Plakate, die zum Ausstieg von Stuttgart 21 aufrufen. Ob Studenten das Thema interessiert? "Gehst du am Wochenende hin?" "Zur Party? Auf jeden Fall." "Und zur Abstimmung?" "Ja, auch das". Susanne kommt aus Karlsruhe, seit vier Semestern wohnt sie in Stuttgart. Wie sie sich entscheiden wird? "Dafür – also für den Ausstieg", sagt sie. Zu viel würde durch den Umbau zerstört, das alte Bahnhofsgebäude, alte Bäume im Schloßgarten und die Vorteile liegen für sie nicht auf der Hand. Wie die Abstimmung ausgehen wird? "Wir werden verlieren", sagt sie und zuckt die Schulter. "Aber die Hoffnung, die hab' ich noch nicht aufgegeben."


Maike Freund ist Redakteurin bei evangelisch.de