"Die Stärke des Journalismus ist, dass er einordnet"

"Die Stärke des Journalismus ist, dass er einordnet"
Wird der Journalismus persönlicher? Es scheint so. Fernsehjournalisten und -reporter stehen mit ihrem Namen für Programme, Blogger und Journalisten berichten über persönliche Erfahrungen, auch in klassischen Medien ist die Ich-Perspektive nicht mehr tabu. Tobias Eberwein, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Dortmund, erklärt im Interview, welche Vorteile die Subjektivierung hat, wo sie verstärkt auftaucht und woher sie kommt.
23.08.2011
Die Fragen stellte Jennifer Warzecha

Ist das Zeitalter des Nachrichtenjournalismus zu Ende?

Tobias Eberwein: Nein, sicherlich nicht. Die Nachricht ist im professionellen Journalismus nach wie vor die wichtigste Darstellungsform. Und sie ist auch notwendig, damit Journalisten ihrer Informationsaufgabe nachkommen können. In den letzten Jahren haben kommentierende und narrative Darstellungsformen aber spürbar an Bedeutung gewonnen. Der einzelne Journalist ist als handelndes Subjekt deutlich stärker in seinen Texten präsent als noch vor zehn oder 20 Jahren.

Welchen Grund hat das?

Eberwein: Ich verstehe das als Reaktion auf die zunehmende Digitalisierung der öffentlichen Kommunikation. Über das Internet und andere Kanäle wird der Mediennutzer regelrecht mit Informationen zugeschüttet – aus verschiedensten professionellen und nicht-professionellen Quellen. Die Aufmerksamkeit des Nutzers ist aber begrenzt. Wenn Journalisten in diesem Medienumfeld ihre Rezipienten trotzdem noch erreichen möchten, müssen sich ihre Beiträge von der Masse der Informationshäppchen im Netz abheben. Viele journalistische Medien setzen daher ganz bewusst auf Analyse und Einordnung.

Was ist der Vorteil der personalierten gegenüber einer neutralen Sichtweise?

Eberwein: Was wir gegenwärtig beobachten können, ist eine Verschiebung der journalistischen Primärfunktion: weg von der Informationsfunktion, hin zur Orientierungsfunktion. Wenn sich ein Nutzer schnell über ein aktuelles Ereignis informieren will, benötigt er dazu nicht zwingend eine journalistische Publikation. Die Ergebnisse vom DFB-Pokal bekommt er im Zweifelsfall auch direkt auf der Webseite des Deutschen Fußball-Bunds. Die Stärke des Journalismus ist eher, dass er erklärt und einordnet. Dass er Orientierung bietet in der allgemeinen Flut der Informationen. Das kann zum Beispiel mit Hilfe von subjektiv geprägten Beiträgen passieren.

Können Sie ein Beispiel nennen, welcher Journalist den Leser mit seiner subjektiven Sichtweise voran bringt?

Eberwein: Man muss sich nur anschauen, welche Pressetitel gegenwärtig den größten Erfolg beim Leser haben: Während die gesamte Printbranche in einer Dauerkrise steckt, können Wochenzeitungen wie "Die Zeit" oder die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" sogar Auflagensteigerungen verzeichnen. Auch im Magazinbereich gibt es Erfolgstitel wie zum Beispiel die "Landlust" oder auch "brand eins". All diese Publikationen punkten beim Leser nicht mit aktueller Nachrichtenberichterstattung, sondern mit gut erzählten Geschichten und verlässlicher Analyse.

Kann man mit Subjektivierung auch mehr Geld machen?

Eberwein: Ja, auf jeden Fall. Das ist auch ein Geschäftsmodell. "Der Freitag" beispielsweise versucht genau das zu nutzen, wenn er seit einiger Zeit auf sein Konzept als "Meinungsmedium" sogar im Untertitel verweist. In diesem speziellen Fall muss sich das Geschäftsmodell allerdings noch bewähren.

Ist der Journalist mit subjektiver Sichtweise noch der "Gatekeeper", der die Themen bestimmt, die überhaupt an die Öffentlichkeit gelangen, oder hat sich im Bild des Journalisten etwas verändert, weil er mehr einordnet anstatt Bericht erstattet?

Eberwein: Das Auswählen von Nachrichten und Themen ist auch heute noch eine zentrale journalistische Tätigkeit. Angesichts der schon angesprochenen Überladung mit Informationen ist sie vielleicht sogar wichtiger denn je, denn als "Schleusenwärter" können Journalisten Relevantes von weniger Relevantem trennen. Das ist eine wichtige Rezeptionshilfe für das Publikum. Zusätzlich zum "Gatekeeper" werden Journalisten aber immer häufiger zum "Sensemaker", zum Sinn-Macher. Indem sie erklären und einordnen, bringen sie Sinn und Ordnung in die zunehmend unübersichtliche soziale Wirklichkeit. Insofern findet im Journalismus gegenwärtig sehr wohl ein Rollenwandel statt.

Gibt es da noch wesentliche Unterschiede zwischen einem Blogartikel und den Darstellungsformen des klassischen Textjournalismus?

Eberwein: Genauso wie es in Zeitungen eine Vielzahl unterschiedlicher Darstellungsformen gibt, variieren die Textformen auch in Blogs zum Teil erheblich: von kurzen Texfragmenten, Nachrichten und Berichten über erzählende und dialogische Formen hin zu argumentierenden Beiträgen. Inhaltsanalysen zeigen aber, dass der Anteil meinungslastiger Texte in Blogs deutlich größer ist als beispielsweise in Tageszeitungen.

Was gibt es dem Leser, wenn ein Blogger aus seinem Leben berichtet?

Eberwein: Blog-Texte wirken häufig sehr authentisch, wenn sie ungefiltert und unverfälscht aus dem Alltag ganz normaler Leute berichten. Ob das, was da berichtet wird, immer auch relevant ist, das steht auf einem anderen Blatt. Diese Authentizität ist etwas, was dem glattgeschliffenen Nachrichtenjournalismus häufig fehlt. In vielen Fällen sind Blogger näher am Geschehen dran und berichten auch aktueller. In solchen Konstellationen können sie auch für den professionellen Journalismus eine wichtige Quelle sein.

Eine alte Theorie des Journalismus war, dass eine subjektive Sichtweise den Leser zu sehr beeinflusse und bevormunde. Ist das heute noch so?

Eberwein: In der Geschichte des deutschen Journalismus gibt es einige dunkle Kapitel, gerade wenn man an die Zeit der beiden Weltkriege denkt. In der NS-Zeit verstand man den Journalisten als "Erzieher der Öffentlichkeit", in der Sowjetunion und später auch in der DDR als "kollektiver Propagandist und kollektiver Agitator", wie Lenin das nannte. Unser heutiges Verständnis von Journalismus ist natürlich – zum Glück – ein gänzlich anderes. Wenn ich dem Journalismus unserer Zeit eine Orientierungsfunktion zuschreibe, geht es um andere Ziele: Es geht darum, die Welt verstehbar zu machen. Das erreichen Journalisten nicht, indem sie den moralischen Zeigefinger erheben, sondern indem sie komplexe gesellschaftliche Verhältnisse transparent machen und damit ihren Lesern zu einem selbstständigen Verstehen der Welt verhelfen.

Bedeutet mehr Subjektivismus mehr Transparenz und damit mehr Demokratie?

Eberwein: Wenn man von mündigen Rezipienten ausgeht, und das tun wir ja, dann ist grundsätzlich erst einmal jeder Meinungsaustausch und jeder gesellschaftliche Diskurs der demokratischen Entwicklung zuträglich. Entscheidend für den Journalismus ist aber, dass offengelegt wird, woher welche Meinungen kommen. Was diesen Transparenzgedanken betrifft, stecken viele Journalisten offenbar noch in einem Lernprozess. Dabei bietet das Internet durch seine kommunikativen Potenziale eigentlich beste Voraussetzungen für mehr Transparenz im Journalismus.


Tobias Eberwein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Journalistik der Technischen Universität Dortmund. Er lehrt und forscht in den Bereichen Online- und Medienjournalismus. In seinem Promotionsprojekt beschäftigt er sich mit den Traditionen des narrativen Journalismus in Deutschland und den USA.