Die Internet-Branche findet Berlin "cooler als New York"

Die Internet-Branche findet Berlin "cooler als New York"
Berlin ist wieder Frontstadt. Im Stadtteil Mitte entwickeln junge Internet-Firmen neue Ideen und Projekte. Bei den Hinterhaus-Startups klopfen internationale Investoren an, die sonst vor allem im Silicon Valley unterwegs sind. Der Trend hat seinen Höhepunkt noch vor sich.
20.08.2011
Von Peter Zschunke

Bei Umsatz und Gewinn können die jungen Berliner Startups nicht mit den IT-Unternehmen in München, Böblingen oder Hamburg mithalten. Gemessen an Gründergeist und Innovationskraft aber ist die deutsche Hauptstadt weit vorn und sorgt auch international für Furore. An der Schönhauser Allee oder am Alex gebe es "in jedem Hinterhaus fünf, sechs Startups", sagt der Vorstandschef von mag10 Publishing, Jochen Wegner, in einem Café in Berlin Mitte. Zu seinem eigenen Projekt einer Plattform für Publikationen auf Tablet-Computern hält er sich bedeckt - "wir sind gerade in einer Investorenrunde".

Diesen Satz bekommt man zurzeit häufiger bei jungen Internet-Firmen zu hören. Auf der Suche nach neuen Investitionsmöglichkeiten klopfen internationale Investoren bei den Hinterhaus-Startups an. "Man braucht gar nicht viel Geld, um herauszufinden, ob eine Idee erfolgreich sein wird oder nicht", erklärt Simon Levene, Partner bei der Londoner Investmentfirma Index Ventures, die im Juni junge Internet-Unternehmer zu einer Grillparty in Berlin eingeladen hat. Am Anfang genüge eine Investition von einigen hunderttausend Euro. "Sobald ein Unternehmen dann beginnt, Zugkraft zu entfalten, werden für das weitere Wachstum ein paar Millionen Euro benötigt."

Lebendige Szene

In dieser zweiten Phase sind bereits die 6Wunderkinder angekommen - eine Ausnahme in der quicklebendigen Startup-Szene der Hauptstadt, da die sechs Gründer ihre Wurzeln in der Region haben. Der 25-jährige CEO Christian Reber kommt aus Brandenburg an der Havel und studierte in Berlin erst Informatik und Mathematik, dann International Management. "Unser Ziel ist, nach SAP mal wieder einen Technologiekonzern in Europa oder Deutschland aufzubauen, und unser Anspruch ist, global funktionierende Software zu entwickeln, aus Berlin heraus."

Angesiedelt sind die 6Wunderkinder im 3. Stock eines Hinterhauses in Berlin-Mitte. Dort wird vor allem Englisch gesprochen. 25 Entwickler und Grafiker arbeiten an einem ehrgeizigen Software-Projekt für die Zusammenarbeit im Internet - die bis Ende des Jahres angekündigte Plattform Wunderkit werde bislang nicht bekannte Möglichkeiten im Bereich der Produktivität bieten, sagt Jessica Erickson, die bei den Wunderkindern als Mädchen für alles tätig ist.

Erstes Produkt der vor einem Jahr gegründeten Firma ist der Aufgabenplaner Wunderlist. Für die Nutzung dieses kostenlosen Angebots haben sich in gut neun Monaten weltweit eine Million Menschen angemeldet.

Ruf reicht bis in die USA

Die 27-jährige Amerikanerin Erickson ist aus New York nach Berlin gekommen. Schon dort habe sie von der Berliner Startup-Szene gehört, von Soundcloud, was den Berlin-Hype wahrscheinlich ausgelöst habe, sagt sie im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa. Die Plattform für den Austausch von Musik wurde im August 2007 von den beiden Schweden Alex Ljung und Eric Wahlforss in Berlin gegründet.

Diese waren mit die ersten in dem Trend, dass internationale Startups Berlin als Standort wählen, weil die Stadt jung, hip und "cutting-edge" ist, also an vorderster Front steht. "Wir haben uns bewusst für Berlin entschieden, weil wir dachten, dass wir hier die besten Entwickler bekommen", sagt Mag10-CEO Wegner. "Inzwischen bewerben sich bei uns Leute aus allen möglichen Erdteilen, die gehört haben, dass Berlin für Entwickler ganz toll ist. Ein junger Brite ist zu uns gezogen aus London, der war innerhalb von zwei Wochen komplett integriert, inklusive Freundin, und ist begeistert von dem Nachtleben hier - und das will etwas heißen, wenn man aus London kommt."

Die Stunde der ersten Generation

"Es gibt sehr wenige Orte in Europa, die eine solche Dynamik haben wie Berlin", sagt Investor Levene. Vergleichbar sei noch London, aber dort sei es weitaus teurer, eine neue Firma zu gründen. Weltweit sei nur das Silicon Valley für Internet-Startups wichtiger - in Kalifornien sei schon die zweite oder dritte Generation am Werk, während in Berlin noch die erste Generation am Start sei.

Dabei hat es auch in Deutschland schon vor gut zehn Jahren erfolgreiche Internet-Startups gegeben. Zu den Pionieren gehörten die Brüder Alexander, Marc und Oliver Samwer, die 1999 nach dem Vorbild von Ebay das Auktionshaus alando.de gründeten - und nach sechs Monaten für 43 Millionen Dollar an Ebay verkauften. In Anspielung an dieses Modell haben die 6Wunderkinder in ihrem Blog zu einer "Anti-Copycat-Revolution" aufgerufen. Sie wenden sich dagegen, ein in den USA erfolgreiches Internet-Projekt lediglich zu kopieren und unter anderem Namen zu vermarkten, um dann schnell einen Käufer zu finden: "Das ist Geschichte, nun ist es Zeit für einen Wandel."

Erschwingliche Lebenshaltungskosten

Das Copycat-Modell sei grundsätzlich eine legitime Möglichkeit, um an Geld zu kommen, erklärt der Investor Levene. Index Ventures sei aber mehr daran interessiert, ein Unternehmen mit neuen Ideen über längere Zeit hinweg zu begleiten. Dazu gehören neben Soundcloud auch die Berliner Startups Amen und Readmill, ein Soziales Netzwerk für Leseerfahrungen.

"Lange Zeit waren wir in Deutschland nicht aktiv", sagt Levene im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa. "In den letzten 12 bis 18 Monaten sind wir dann mit viel Enthusiasmus zurückgekehrt." Und der Startup-Boom in Berlin habe seinen Höhepunkt noch vor sich.

Neben den im internationalen Maßstab vergleichsweise geringen Lebenshaltungskosten werden die kreativen Köpfe, unter ihnen viele talentierte Entwickler aus Osteuropa, von der Club- und Kunstszene in Berlin angezogen. "Ich habe in Seoul gelebt und in London, in New York und Minneapolis und anderswo auf der Welt", erklärt Jessica Erickson. "Aber ich kann wahrhaft sagen, dass Berlin die coolste Stadt ist, in der ich bisher gelebt habe."

dpa