Horror, Hass und Rache: Der syrische Albtraum

Horror, Hass und Rache: Der syrische Albtraum
Jeder syrische Flüchtling, der über die grüne Grenze in die Türkei kommt, hat eine Horrorgeschichte im Gepäck. Die Flüchtlinge hoffen, dass die internationale Staatengemeinschaft ihnen helfen wird, das Assad-Regime loszuwerden - nur wie, das wissen sie nicht.
14.06.2011
Von Anne-Beatrice Clasmann

Sie kommen zu Tausenden über die Grenze, auf Schleichwegen, mit Schrecken in den Augen und Angst in der Seele. In der türkischen Grenzprovinz Hatay versammeln sich jeden Tag mehr Vertriebene aus Syrien. Sie fliehen vor einem Regime, das keine Hemmungen hat, auf unbewaffnete Demonstranten zu schießen und Jugendliche zu Tode zu foltern.

Die meisten von ihnen sagen, sie wollten erst in die Heimat zurückkehren, wenn Präsident Baschar al-Assad und sein Clan entmachtet sind. Doch sie sind sich nicht sicher, dass dies gelingen wird. Deshalb gehen sie den Fernsehkameras aus dem Weg, die vor den Flüchtlingslagern und Krankenhäusern in Hatay stehen. Denn die Überlebenschancen für Regimegegner sind in Syrien in diesem heißen arabischen Frühling schlecht.

"Ich will helfen, nicht Waffen tragen"

Ramsi, der Sanitäter aus Dschisr al-Schogur, ist dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen. Als am vorletzten Samstag eine Kugel in seinen Rücken eindrang, spürte er zunächst nur einen ganz leichten Schmerz. Doch als sie dann unter seinem linken Rippenbogen wieder austrat, war es ein Gefühl, als würde sein ganzer Körper explodieren. "Ich rief nur noch einmal "Gott ist groß", dann fiel ich vornüber auf den Verletzten, den ich eigentlich bergen wollte", sagt er.

Was danach geschah, weiß der 29-Jährige nicht. Der Syrer verlor das Bewusstsein und wachte erst wieder auf, als ihn fremde Menschen auf einer Schaumstoffmatratze über die Grenze trugen. Ausweispapiere hatte er nicht bei sich, als er in der Türkei ankam. Jetzt liegt er mit zwei anderen syrischen Patienten in einem Krankenhaus in der Stadt Antakya.

"Ich habe für den Roten Halbmond gearbeitet, ich bin ein Mensch, der helfen will, nicht Waffen tragen, aber so kann es doch nicht weitergehen", erklärt er mit schwacher Stimme. "Wir können uns doch nicht einfach so abschlachten lassen und die Welt schweigt dazu", sagt der Sanitäter zu einem Landsmann, der ins Krankenhaus gekommen ist, um ihm Mut zuzusprechen und um weitere Hiobsbotschaften zu überbringen. "In Dschisr al-Schogur haben sie jetzt damit begonnen, die Häuser zu zerstören, einige zünden sie an, andere machen sie mit Bulldozern platt", berichtet der alte Mann.

Eine junge Frau mit rotem Kopftuch reicht dem Alten einen Plastikbecher mit Tee. Sie starrt ihn an und senkt dann den Blick. Dann bricht es aus ihr heraus: "Wir waren eine der letzten Familien, die vor einer Woche aus Dschisr al-Schogur geflohen sind, weil wir kein eigenes Auto haben, doch als sie von den Minaretten riefen, das Wasser sei vergiftet und wir sollten uns in Sicherheit bringen, bevor die Armee in die Stadt kommt, haben wir uns mit einem Minibus zur Grenze bringen lassen."

Syrischer Geheimdienst kam mit der iranischen Revolutionsgarde

Zwei Etagen unter dem Krankenzimmer von Ramsi liegt Mohammed aus Maaret al-Noaman, einer Nachbarstadt von Dschisr al-Schogur. Viele Jahre sind vergangen, seitdem Mohammed seinen Vater zum letzten Mal gesehen hat. Der Vater ist aus der jemenitischen Hauptstadt Sanaa angereist, einer weiteren Hochburg des arabischen Aufstandes gegen Diktatur, Korruption und Menschenrechtsverletzungen.

Es ist kein glücklicher Anlass, der Vater und Sohn zusammengeführt hat. Mohammed ist bei einer Demonstration von zwei Kugeln getroffen worden. Nach einer Operation in einer Privatklinik in der Stadt Hama verschlechterte sich sein Zustand so sehr, dass ihn Verwandte zur Grenze brachten, wo ihn auf der türkischen Seite ein Krankenwagen abholte.

Mohammed ist sich sicher, dass unter den Bewaffneten, die auf die Demonstranten schossen, auch Angehörige der iranischen Revolutionsgarden waren. "Sie kamen am Donnerstagabend zusammen mit syrischen Geheimdienstleuten in unsere Stadt. Wir gingen hin, um zu gucken, wer die Neuankömmlinge waren. Einige Anwohner boten ihnen Essen an. Die Syrer unter ihnen lehnten ab. Doch einige der Männer antworteten nicht. Sie verstanden ganz offensichtlich kein Arabisch. Außerdem trugen sie Vollbärte, was im syrischen Sicherheitsapparat verboten ist."

Mohammeds Vater hat einen kurz gestutzten grau-weißen Bart. "Wir sind beide vertrieben worden von Präsident Assad", sagt er: "Mich hat Hafis al-Assad, der Vater, 1980 vertrieben, und mein Sohn musste jetzt vor seinem Sohn Baschar al-Assad fliehen." Mohammeds linkes Bein ist angeschwollen, im Unterschenkel stecken Schrauben. Seinen linken Arm fühlt der 23-Jährige nicht mehr. Sein Vater floh damals, weil Assad senior Jagd auf die Mitglieder der bis heute in Syrien verbotenen Musimbruderschaft machte, der er angehörte.

Er hofft, dass die Revolte der Jugend auch ihm den Weg für eine Rückkehr in die Heimat ebnen kann, die er seit mehr als 30 Jahren nicht mehr gesehen hat. Er hat im Exil in Jordanien gelebt, im Irak, und im Jemen. "Nicht nur die sunnitischen Muslime wollen, dass Assad und sein Bruder Maher (der Kommandeur der 4. Brigade der Armee) entmachtet und vor Gericht gestellt werden, sondern auch die Christen, sogar die Steine und Bäume", sagt er.

dpa