Einkauf bei der Tafel: "Sie brauchen sich nicht zu schämen!"

Einkauf bei der Tafel: "Sie brauchen sich nicht zu schämen!"
Schon manches Mal habe ich mich gefragt, ob ich wagen würde, zur "Tafel" zu gehen, wenn es mit dem Geld knapp würde. Mich in die Reihe der "Kunden" zu stellen und mir eine Ration Lebensmittel aushändigen zu lassen, die von Supermärkten und Bäckereien gespendet werden. Ich hätte ein Recht darauf, wäre ich arbeitslos, geringverdienend, Rentnerin oder alleinerziehende Mutter.
28.03.2011
Von Cornelia Kurth

Käme ich mir vor wie jemand, der öffentlich ein Versagen eingesteht? Wäre es besser, zu leiden, als diese Hilfe in Anspruch zu nehmen? Als neulich ein Bekannter erzählte, er habe den ersten Gang zur "Tafel" als demütigend empfunden und werde es nie wieder tun, wollte ich es genauer wissen. Und machte mich auf den Weg zur Tafel in Rinteln (Niedersachsen).

Kurz vor 13 Uhr muss man dort sein, das wusste ich schon. Damit es keinen Zwist um die Reihenfolge am Tresen gibt, zieht jeder eine Nummer aus einem Körbchen, eine Art Los, das bestimmt, ob man gleich als Erstes drankommt oder noch warten muss. Wer nicht rechtzeitig da ist, kann höchstens ganz zum Schluss nachfragen, ob noch etwas von den Vorräten übrig blieb. "Das muss so ein", sagt eine ältere Frau, die bereits vor der Tür der "Tafel" wartet. "Die Mitarbeiter zählen, wie viele Leute wir sind und teilen danach den Anteil ein, den jeder bekommt. Die wollen ja schließlich nicht am Ende jede Menge wegschmeißen müssen."

Ich nicke und bin froh, ein bisschen mit der recht sympathischen Frau reden zu können. Oft schon ging ich an den Wartenden in der Klosterstraße vorbei. Jetzt habe ich mich dazugesellt und fühle mich etwas ausgesetzt. Hier steht nur herum, wer zu den Kunden der "Tafel" gehört. Man muss sich innerlich wappnen, um sich in dieser Öffentlichkeit nicht angreifbar zu fühlen. "So ging es mir auch die ersten Mal", meint die Frau. "Aber was soll man tun, da muss man durch!" Sie kommt aus dem Extertal. Ihr Mann habe nach der Trennung sämtliche Wertgegenstände mitgehen lassen und sie müsse sich um ihre kranke Mutter kümmern, erzählt sie. "Ohne die 'Tafel' ginge es mir sehr viel schlechter."

"Das nächste Mal die Hartz-IV-Bescheinigung mitbringen"

Außer mir warten draußen vor der Tür noch ein Vater mit seinem Sohn und einige jüngere Frauen. Aus ihren Gesprächen man heraushört, dass sie arbeitslose Mütter sind und Hartz IV beziehen. "Sie können auch in den Aufenthaltsraum gehen, da, die zweite Tür", sagt die ältere Frau. "Das ist hier anders als im Extertal, wo man in der Kälte draußen warten muss, oft über eine Stunde." Also öffne ich die Tür und trete ein. Der kleine Raum ist gut gefüllt, ein russlandlanddeutsches Stimmengewirr. Lauter ältere und alte Frauen und Männer, die sich zu kennen scheinen, haben Stühle um die Tische herum zusammengerückt, daneben sitzen ein paar stille Einzelgänger.

Ein Mann liest eine Werbezeitschrift und wirft mir einen teilnahmslosen Blick zu. Ein Mädchen trägt ein Baby auf dem Arm, das Kind lacht mich an, es lacht alle an. "Wann gibt es denn diese Nummern?" frage ich das Mädchen. "Und - bekomme ich wohl etwas, obwohl ich mich nicht angemeldet habe?" Die junge Mutter kann mich beruhigen: "Die Nummern ziehen wir gleich. Und ganz bestimmt bekommen Sie etwas. Erst beim nächsten Mal müssen Sie die Hartz IV-Bescheinigung mitbringen oder nachweisen, über das Sozialamt, dass Sie zu wenig Geld verdienen."

Da öffnet sich auch schon die Durchgangstür, eine Mitarbeiterin tritt ein, fragt, wer Kaffee will (niemand) und hält dann jedem der insgesamt etwa 20 Wartenden das Körbchen mit den Nummernzetteln hin. "Oh", ruft erfreut ein alter Mann. "Nummer drei, dann bin ich ja gleich dran." Ich ziehe die Nummer 14, und als ich wieder nach draußen gehe, sagt die Frau aus dem Extertal, sie habe die 18 gezogen. "Das bedeutet mindestens eine Stunde warten", meint sie. "Na ja, dann gehe ich noch in das Kleiderstübchen nebenan." Das ist die Kleiderkammer, ebenso vom Deutschen Roten Kreuz organisiert wie die Tafeln in Rinteln, Stadthagen, Obernkirchen und Bad Nenndorf.

Was sage ich, wenn ich an der Reihe bin?

Warten. Draußen ist es ziemlich kühl. Drinnen ist es sehr warm und es wird auch immer stickiger. Auf einem Informationszettel steht zu lesen, man solle eine saubere Plastiktüte für das Gemüse und einen sauberen Leinenbeutel für das Brot dabei haben. Hmm - an sowas habe ich gar nicht gedacht. Ich sehe mich um: Alle haben große Körbe und Taschen dabei und tatsächlich: Wenn die Kunden, die einzeln in den Ladenraum gerufen werden, wieder herauskommen, sind sie richtig schwer bepackt. Warten. "Gehen Sie lieber nicht groß irgendwo hin", sagt eine der jüngeren Frauen, die vor dem Laden stehen. "Manchmal läuft es schneller als man denkt, und wenn man seine Nummer verpasst, kommt man als Letzter dran."

Ich überlege, was ich sagen soll, wenn ich an der Reihe bin. Ich will nicht lügen, will mich auch nicht unrechtmäßig bedienen. Was im Warteraum geredet wird, kann ich nicht verstehen, alle diese älteren Leute sprechen russisch, sie scheinen überwiegend Rentner zu sein. Die Frauen draußen erzählen sich von ihren Gängen zum Jobcenter und dass sie keine Arbeit finden. Eine von ihnen hat ein Kind mit ADHS, für das es keine Aufsichtsperson gibt. "Ich will ja Arbeit haben" sagt sie zu den anderen. "Ich will endlich wieder normal sein und dazugehören!"

Ich lehne mich an die Hauswand und stelle mir vor, dass ich Hartz IV bezöge und von nun an regelmäßig zur "Tafel" käme. Dass ich nach und nach die Leute hier und ihre Geschichten kennenlernen würde; dass mir die beobachtenden Blicke der Vorübergehenden nichts mehr ausmachten; dass es zweimal in der Woche zu meinem Alltag gehören würde, hier "einzukaufen" (man bezahlt einen Euro für den Warenkorb). "Ich wollte mich nur mal umsehen", werde ich den Mitarbeitern sagen. "Mal sehen, wie es so ist. Ein Freund von mir bekommt Hartz IV, aber er traut sich nicht. Deshalb wollte ich mal fragen und so." Das alles stimmt ja auch.

Großeinkauf: Ein Rucksack, eine Tüte und ein Leinenbeutel

Da wird meine Nummer aufgerufen, freundlich bittet man mich herein, und als ich genau das sage, was ich mir zurechtgelegt habe, fragt niemand genauer nach - so klar scheint zu sein, dass ich schon einen guten Grund haben würde, um Unterstützung nachzufragen. Eine junge Mitarbeiterin holt Dinge aus dem Kühlschrank, eine andere legt Obst und Gemüse für mich zurecht. Die dritte bittet mich um einen Euro und darum, meinen Nachnamen und eine Unterschrift auf die entsprechende Liste zu setzen. "Geben Sie das ihrem Freund", sagt sie. "Und er soll ruhig kommen, er muss nur die Hartz IV-Bescheinigung mitbringen."

So viele Sachen liegen jetzt für mich zum Einpacken bereit! Mein kleiner Rucksack kann die gar nicht alle aufnehmen. Heute sei ein guter Tag, sagen die Mitarbeiterinnen. Man könne nie wissen, was geliefert werde. Manchmal seien die Leute enttäuscht und manche verstünden nicht, dass das, was hier ausgegeben werde, ja nur eine Ergänzung zum normalen Einkauf sein könne. Man sucht nach einer Tüte für mich, findet einen Leinenbeutel und noch eine Plastiktüte. Als ich Obst, Gemüse, Kräuterlachs und Pudding, Brot und Brötchen verstaut habe, weiß ich kaum, wie ich alles tragen soll. "Nehmen Sie ruhig noch was von dem Salat", werde ich ermuntert. "Sie brauchen sich nicht zu schämen, Sie haben doch dafür bezahlt."

Was heißt "demütigend"? Warum empfand der Bekannte, der mir von seinem "Tafel"-Besuch erzählte, es so? Trat man ihm anders entgegen als mir? Oder trennte er nicht zwischen dem, was hier bei der Tafel geschah und der allgemeinen Situation von Arbeitslosen, die damit leben müssen, dass sie oft von oben herab betrachtet werden? Mit meinen schweren Taschen wandere ich nach Hause. Ich frage mich, ob ich wohl komisch angesehen werde. Ob jeder wüsste, dass ich diesen Einkauf nur aus der "Tafel" erhalten haben kann, da die Lebensmittelläden in der anderen Richtung liegen. "Ist mir doch egal!", denke ich. Oder richtiger: Ich will es denken können.

Wer nicht kochen kann, hat nicht viel davon

Beim Auspacken der Taschen zu Hause in der Küche kommt mir eine Idee: Ich lade den Freund ein zu einem Essen mit Brokkoli, Ravioli und Tomatensauce, dazu einem kleinen Salat und zum Nachtisch Pudding. Wer die zehn etwas altbackenen Brötchen und das Stangenbrot rechtzeitig essen wird - fraglich. Auch Obst und weiteres Gemüse müssten schnellstens verzehrt werden, sie sind alle stark am Rande des Verfalls, nicht umsonst handelte es ja um aussortierte Waren. Das anfängliche Staunen über den Reichtum weicht einer ruhigen Nüchternheit. 

Ja, doch, so ein "Tafel"-Besuch entlastet knappe Haushaltskassen. Um einen sinnvoll geplanten Einkauf handelt es sich dabei allerdings nicht, so manches wird man schließlich selbst entsorgen müssen. Etwa anderthalb Stunden dauerte mein Einkauf, und wer nicht kochen kann, wird nicht so viel davon haben. 

Würde ich die "Tafel" einem Freund in Not empfehlen? Nicht leicht zu sagen. Man zahlt nicht mit Geld, sondern mit Gelassenheit. Woher auch immer die kommen mag angesichts der oft aussichtslosen Situation als Hartz IV-Empfänger oder Rentner mit ganz wenig Geld. Ich denke, ich würde einen Freund begleiten. Und wenn ich selbst die "Tafel" bräuchte, hätte ich gerne jemanden an meiner Seite.


Cornelia Kurth arbeitet in Rinteln als Freie Journalistin mit dem Schwerpunkt Sozialreportagen.