"Lehrer leugnen den Analphabetismus"

"Lehrer leugnen den Analphabetismus"
Schulen können Kindern nach Erfahrung von Diplompädagogin Ingan Küstermann nur schwer Lesen und Schreiben beibringen, wenn von den Eltern keinerlei Unterstützung kommt. Küstermann leitet den Berliner Verein "Lesen und Schreiben e.V.". Als eine der ganz wenigen Einrichtungen in Deutschland bietet der Verein nicht nur Lese- und Schreibkurse an, sondern unterstützt Erwachsene bei praktischen Problemen im Alltag.
24.03.2011
Die Fragen stellte Maren-Kea Freese

Welche Bevölkerungsgruppen sind am meisten vom Problem des Analphabetismus betroffen?

Ingan Küstermann: Sowohl an der Schule als auch bei den erwachsenen Analphabeten sind es nicht die Menschen mit Migrationshintergrund, die die großen Probleme haben. Bei den erwachsenen Analphabeten sind es zwei Drittel Deutsche, und davon wieder eine überwiegende Mehrheit deutsche Männer, die Analphabeten sind.

Wie kann es sein, dass Kinder die Schule besuchen, ohne die Kernkompetenzen wie Lesen und Schreiben ausreichend zu beherrschen?

Küstermann: Ein wichtiger Punkt sind sicherlich die Elternhäuser. Zu oft passiert zu Hause gar nichts. Wenn Eltern weder ihre Vorbildfunktion wahrnehmen, noch mit den Kindern lesen und schreiben üben, verpassen diese Kinder oft den Anschluss. Den Kindern fehlt die Unterstützung zu lernen. Häufig wird der Wert von Bildung als solcher gar nicht mehr erkannt und vermittelt. Die Motivation fehlt.

Welche Rolle spielt die Schule?

Küstermann: Oft leugnen Lehrer vehement, dass Analphabetismus an ihrer Schule ein Problem ist. Analphabetismus entsteht oft, obwohl die Lehrer nach bestem Wissen und Gewissen Unterricht machen. Doch die Lehrer fühlen sich schuldig und haben Angst, man werfe ihnen vor, ihren Job nicht richtig zu machen. Aber auch wenn sie Übermenschen wären, könnten sie das gar nicht vermeiden. Ein Lehrer kann definitiv nicht auffangen, was die Eltern oder das Umfeld anrichten.

Was tut der Bund, was tun die Länder gegen Analphabetismus?

Küstermann: Die Bildungspolitiker argumentieren immer wieder, dass Alphabetisierungskurse bereits flächendeckend in allen Bundesländern angeboten werden, vorwiegend über die Volkshochschulen. Sie denken, damit seien sie aus dem Schneider. In ganz Deutschland gibt es nur sieben Einrichtungen, die Vollzeitmaßnahmen für funktionale Analphabeten anbieten. Das ist natürlich viel zu wenig. Wir reden ja gar nicht von einer Riesensumme an Geld, die das bräuchte. Im Grunde ist das nicht zu verstehen.

Was muss getan werden?

Küstermann: Meiner Meinung nach zählt für heutige Politiker außer Euro und Cent nicht viel. Das heißt, ich muss versuchen, ihnen klar zu machen, dass es beim Analphabetismus auch einen wirtschaftlichen Aspekt gibt. Es ist nicht bloß eine moralisch-ethische Aufgabe, sondern es nutzt der Gesellschaft auch in Euro und Cent, wenn sie sich diesem Problem stellt. Denn die Analphabeten sind auch ein wirtschaftlicher Faktor.

Eine neue Studie der Universität Hamburg kommt zu dem Ergebnis, dass mehr als 14 Prozent der Erwerbsfähigen, also etwa 7,5 Millionen Erwachsene in Deutschland funktionale Analphabeten sind. Bisher ging man ja von "nur" vier Millionen aus. Wie kann es fast zu einer Verdoppelung der Zahlen kommen?

Küstermann: Die Dunkelziffer war schon immer sehr hoch. Das wusste man zwar, aber erst in der Studie "Leo.Level one" von Anke Grotlüschen, Professorin für Erwachsenenbildung an der Universität Hamburg, konnte mit einer verbesserten Forschungsdatenlage über das unterste Kompetenzniveau des Lesens und Schreibens gearbeitet werden. Diese neue Zahl bezieht sich wohlgemerkt auf die erwachsene Bevölkerung (18 bis 64 Jahre) und bezieht keine Migranten ein, die sich in Integrationssprachkursen befinden.

epd