Die Vision einer besseren Welt: Bis 2022 ohne Atomstrom?

Die Vision einer besseren Welt: Bis 2022 ohne Atomstrom?
Nach dem Atomhavarie in Japan hat Kernkraft einen schweren Stand. Immer mehr Kunden verlangen nach sauberem Ökostrom. Ein Ausbau der Produktionskapazitäten ist nach Expertenaussage möglich. Wir werden uns bis 2050, wenn 100 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien kommen könnte, an das Bild der Windparks und Speicherwerke gewöhnen müssen. Jedoch auch diese Anlagen will nicht jeder Anwohner vor seiner Tür.
23.03.2011
Von Miriam Bunjes

In etwa 40 Jahren könnte Deutschlands Strom vollständig aus erneuerbaren Quellen stammen, haben Experten errechnet. Ein großer Teil davon wird aber importiert werden müssen. "Diese Veränderungen sind nach Fukushima nicht mehr verhandelbar", heißt es in der Branche.

Beim größten deutschen Ökostromanbieter Lichtblick in Hamburg stehen die Telefone kaum noch still. "Es rufen täglich dreimal so viele Neukunden an wie vor der Japan-Katastrophe", sagt Unternehmenssprecher Ralph Kampwirth. In Zahlen: 800 statt 300. In der ersten Woche nach dem Erdbeben und dem Kollaps der Kühlsysteme im Atomkraftwerk Fukushima brach gar die Website unter dem Besucheransturm zusammen.

"Fukushima hat viele aufgeweckt, die eigentlich schon vorher gegen Strom aus Atomkraft waren", sagt Kampwirth. Theoretisch. "Strom ist ja schon da, wenn man irgendwo einzieht", sagt Kampwirth. "Den Anbieter kündigen, einen neuen mit Ökostrom finden - das lässt sich eben immer wieder aufschieben, ohne dass man persönliche Auswirkungen spürt." Fukushima verändert diese Einstellung offenbar massenhaft.

Katastrophe hat wach gerüttelt

Und der Wille bestimmt die Geschwindigkeit. "Den alten Atomausstiegsplan bis 2022 können wir in Deutschland problemlos umsetzen", sagt Frank Musiol, Analyst beim vom Land Baden-Württemberg, Unis und Wirtschaft gegründeten Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoffforschung. "Das geht auch noch schneller, je nach dem, wie viel Geld die Politik dafür ausgeben will."

Auf die sieben alten Atommeiler, die nach dem schnellen Kurswechsel der schwarz-gelben Koalition per Memorandum heruntergefahren werden, könne das deutsche Stromnetz in jedem Fall problemlos verzichten. 23 Prozent des deutschen Stromes wird derzeit in Atomkraftwerken produziert, 17 Prozent stammt aus erneuerbaren Energiequellen. "Unabhängig von den Ereignissen in Japan war politisch geplant, bis 2020 zu mindestens 35 Prozent regenerativen Strom zu haben", sagt Musiol. "Der Ausbau ist sowieso angelaufen. Vieles steht sozusagen in Startposition."

Das in vielen Studien von Umweltorganisationen wie Greenpeace und WWF sowie vom Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung anvisierte Ziel ist: Bis 2050 soll Deutschlands Stromversorgung vollständig auf regenerative Energien umgestellt sein. Musiol hält das für realistisch. "Das größte Potenzial haben Wind-, Sonne- und Wasserkraftanlagen", sagt der gelernte Chemiker. "Biomasse kann nur begrenzt eingesetzt werden, weil die Energiepflanzen sonst zu viel Fläche besetzen und diese Monokulturen umweltschädlich sind."

Mehr Speicher, mehr Leitungen

In diesem Zukunfts-Deutschland sieht es jedoch dann an vielen Stellen anders aus als heute: Große Windparks in der Nordsee, mehr Photovoltaikanlagen, mehr Pumpspeicherkraftwerke samt den damit verbundenen Stauseen. Denn der größte Unterschied zwischen der Stromproduktion in Kohle- und Atomkraftwerken und der natürlichen Energie ist, dass der Strom aus der Natur unregelmäßig vorkommt und deshalb gespeichert werden muss.

Und: Die Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien ist deutlich dezentraler. Auch das Stromnetz muss den neuen Herausforderungen genügen. Schon jetzt hält die Deutsche Energie-Agentur 3.600 Kilometer an neuen Hochspannungsleitungen bis 2020 für notwendig, Experten betonen, es gehe auch mit weniger. Bisher ist das Höchstspannungsnetz mit rund 35.000 Kilometern fast dreimal so lang wie das deutsche Autobahnnetz.

Auch das Verteilnetz der unteren Spannungsebenen müsste ausgebaut werden, also die Leitungen, mit denen der Strom beispielsweise von Solaranlagen ins Netz geleitet wird. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) schätzt den Neubaubedarf auf 195.000 Kilometer, geschätzte Kosten dafür: 13 Milliarden Euro.

AKWs passen nicht zur "Welt, die man erhalten will"

"Mit Ökostrom ist man von Jahreszeiten und Tageszeiten abhängig", sagt Musiol. Weil es manchmal viel Naturstrom gibt und manchmal wenig, seien Atommeiler auch keine geeignete Brückentechnologie. "Die Leistung von AKWs lässt sich schlecht regulieren. Sie passen schlecht zum Ökostrom."

Sie passen sowieso nicht in eine Welt, die man erhalten will, findet Umweltpfarrer Hubert Meisinger von der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Die evangelische Kirche fordert schon seit Tschernobyl den Atomausstieg: "Die Menschen sollen die Schöpfung bewahren. Eine risikoreiche Energietechnik ist damit nicht vereinbar." Durch die Bevölkerung sei durch die Katastrophe in Japan ein erneuter Weckruf gegangen.

Auch Hermann-Josef Wagner vom Lehrstuhl für Energiesysteme und Energiewirtschaft der Ruhruniversität Bochum sieht Fukushima als Wendepunkt. Er erwartet dennoch Proteste aus der Bevölkerung, wenn es zum Bau großer Windparks und Speicherwerke kommt. "Vor der eigenen Haustür wollen das viele dann doch nicht haben."

epd/dpa