Koalition ringt um Fassung: Wie erklären wir die Atomwende?

Koalition ringt um Fassung: Wie erklären wir die Atomwende?
Schwarz-Gelb hat in der Atompolitik die Notbremse gezogen. Die verlängerten Laufzeiten werden ausgesetzt, sieben alte Meiler abgeschaltet. Viele Bürger sind verunsichert. Die Regierung auch.
16.03.2011
Von Frank Rafalski

Schon die Wortwahl zeugt von größter Verunsicherung. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) spricht von einem "Einschnitt für die ganze Welt". Das Wort "Zäsur" gehört bei den Regierenden inzwischen zum Standard-Vokabular, wenn über die Folgen der drohenden Atom-Apokalypse in Japan die Rede ist.

Nahezu hilflos klingt auch Stefan Mappus. Er spricht von einer "emotionalen Ausnahmesituation". Der CDU-Ministerpräsident von Baden-Württemberg war bisher strammer Atomkraft-Verfechter. Er steht am 27. März vor einer Schicksalswahl in seinem Land, die auch Vorbote für das Ende der Regierung Merkel sein könnte.

In diesem völlig neuen politischen Szenario hat Schwarz-Gelb sichtlich größte Mühe, die Energie-Kehrtwende zu begründen, ohne als populistischer Wendehals dazustehen. Stundenlang haben Merkel und FDP-Chef Guido Westerwelle am vergangenen Wochenende über die Folgen von Fukushima gesprochen.

Was hat sich durch Fukushima eigentlich geändert?

Zum Schluss stand für sie fest: Die Auswirkungen der Katastrophe an der Ostküste Japans sind so gewaltig, dass über das seit Jahrzehnten strittigste Thema der deutschen Innenpolitik - den Umgang mit der Kernenergie - ganz neu nachgedacht werden muss. Auch mit Blick auf das Wahljahr kamen Kanzlerin und Vize-Kanzler zu der Entscheidung: "Die Regierung muss das Heft des Handelns behalten."

Seitdem hagelt es fast im Tagesrhythmus Entscheidungen, für die früher Monate, wenn nicht Jahre nötig gewesen wären: ein dreimonatiger Aufschub der erst im Herbst 2010 beschlossenen Verlängerung der Atomlaufzeiten; neuer Sicherheitscheck für alle Anlagen; sieben alte AKW vom Netz. Selbst alte Hasen unter den Spitzenbeamten in der Regierung stockt bei diesem Tempo der Atem.

"Was hat sich eigentlich an der Sicherheit der deutschen Kernkraftwerke, die bis vor kurzem noch als die sichersten der Welt galten, verändert?" Wer Koalitionsvertretern diese Frage stellt oder gar die zeitliche Nähe zu den Landtagswahlen an diesem und am übernächsten Wochenende anspricht, wird in diesen Tagen im Berliner Regierungsviertel schräg angeguckt: "Das ist altes parteitaktisches Denken." Das verbiete sich angesichts des unermesslichen Leids der japanischen Bevölkerung.

Die Stimmung hat sich stärker verändert als die Fakten

"Neue Risikoabwägung" lautet nun das schwarz-gelbe Losung. Es gebe eine neue Faktenlage, weil Japan bislang als weltweit führend in den Sicherheitsstandards galt. Außerdem - und das ist für die plötzliche Atomwende von Schwarz-Gelb fast ebenso wichtig - gibt es nach Japan im Deutschland eine völlig neue Stimmungslage in Sachen Kernkraft.

Union und FDP hatten 2009 die Bundestagswahl auch mit der Forderung nach Verlängerung der Atomlaufzeiten gewonnen. Inzwischen ist die Stimmung ins Gegenteil gekippt. Ein hoher Koalitionsmann, der vor wenigen Wochen noch absoluter Verfechter der Atomkraft als Brückentechnologie war, räumt ein: "Jetzt suchen wir den geordneten, schnellen Ausstieg."

Für einige in der Koalition geht das zu schnell. Zu ihnen gehört Volker Kauder. Als der Unionsfraktionschef am Wochenende im Fernsehen noch den bisherigen Atomkurs der Koalition verteidigte, waren die CDU-Vorsitzende und der FDP-Chef schon längst auf Ausstiegskurs. Aber auch Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) zweifelt, dass der Kurs, den die bei Parteichefs eingeschlagen haben, ohne umfassende gesetzliche Absicherung rechtsstaatlich überhaupt möglich ist.

Entsetzen, Ratlosigkeit und unklare Rechtslage

Die Verunsicherung nimmt zu, wenn nach Wahl-Prognosen etwa in Baden-Württemberg gefragt wird. Die ersten Umfragen deuten nicht darauf hin, dass CDU und FDP in der Wählergunst einbrechen. Eher gebe es einen Zulauf zu den Grünen zulasten von SPD und Linken, versucht man sich in der Berliner Koalition Mut zu machen.

Offen ist auch, ob die AKW-Betreiber stillhalten, wenn ihnen die noch vor kurzem in Aussicht gestellten großen Gewinne von einem Tag auf den anderen entschädigungslos weg brechen. Und Steuerwohltaten, die Schwarz-Gelb angesichts der günstigen Wirtschaftsdaten zuletzt wieder für möglich hielt, sind infrage gestellt, da Geld mutmaßlich in gewaltige Programme für erneuerbare Energien fließen sollen.

"Alles gehört auf den Prüfstand", hat Merkel wenige Stunden nach Beginn der Katastrophe in Japan gesagt. Und: "Die Lage nach dem Moratorium wird eine andere sein als die Lage vor dem Moratorium." Das dürfte mit Sicherheit auch für die schwarz-gelbe Koalition gelten. Es ist Entsetzen, das hinter den Worten der gelernten Physiker im Kanzleramt steckt, aber auch eine Menge Ratlosigkeit.

dpa