Winnenden: Eine Stadt sucht Abstand von der Tat

Winnenden: Eine Stadt sucht Abstand von der Tat
Die städtische Flagge hängt mit Trauerflor auf Halbmast. Etwa 500 Menschen stehen schweigend auf dem Marktplatz und schauen auf die Rosen, die am Rand des Brunnens stehen. Weiße Rosen erinnern an die Opfer des Amoklaufs von Winnenden vor genau zwei Jahren. Es ist 9.33 Uhr. Die Glocken der Stadt läuten fünf Minuten lang.
11.03.2011
Von Judith Kubitscheck

Schrecklich lange fünf Minuten: In dieser Zeit betrat der 17-jährige Tim K. am 11. März 2009 die Albertville-Realschule und erschoss neun Schülerinnen und Schüler sowie drei Lehrerinnen. Auf der Flucht tötete er drei weitere Menschen, bevor er sich selbst das Leben nahm. Auf dem Winnender Marktplatz verliest Oberbürgermeister Hartmut Holzwarth die Namen der Opfer. Anschließend betet der evangelische Pfarrer Reimar Krauß das Vaterunser.

Nun ist das offizielle Gedenken beendet. Der Kreis der dunkel gekleideten Menschen rund um den plätschernden Brunnen löst sich auf. Ein stilles Gedenken - ohne Politiker, die gerade in Wahlkampfstimmung sind, und weg vom eigentlichen Tatort - so wollte es der neue Oberbürgermeister. "Wir müssen Abstand von dem Tatort bekommen", sagte er im Vorfeld des zweiten Jahrestages des Amoklaufes.

"Alle Erinnerungen kommen hoch"

"Heute kommen wieder alle Erinnerungen in mir hoch," sagt Vanessa Maiorano aus der neunten Klasse der Albertville-Realschule. Seit fast zwei Jahren werden sie und die anderen Schüler in provisorischen Containern unterrichtet. Ab September sollen die 620 Schüler wieder in ihr früheres renoviertes Schulgebäude umziehen. Doch die Neuntklässlerin hat Angst vor dem Umzug. "Ich will nicht mehr in dieses Gebäude", sagt sie. Langsam geht sie mit ihren Freundinnen zum Gedenkgottesdienst in die Schlosskirche.

Hier zünden Schüler der Albertville-Realschule 15 Kerzen an der Auferstehungskerze am Altar an. Die Kerzen wurden aus den Resten der Tausenden von Friedhofskerzen gegossen, die vor zwei Jahren für die Opfer des Amoklaufes aus Anteilnahme angezündet worden waren. "Wir gedenken unserer Verstorbenen, wollen aber nicht nur bei Trauer und Erinnerung stehen bleiben, sondern fragen, wie wir weiter leben können", sagt Pfarrer Winfried Maier-Revoredo.

Keine Kerze für den Täter

Man sei aber noch nicht in der Lage für das 16. Opfer des Amoklaufes, den Amokläufer selbst, eine Kerze zu entzünden. "Wir befinden uns hier immer noch auf dem Weg", sagt der Pfarrer. "Herr unser Glaube ist durch diese Ereignisse auf eine schwere Probe gestellt worden", heißt es im Fürbittengebet. "Deine Gnade ist so unermesslich groß, dass du selbst dem Täter und allen, die mit schuldig geworden sind, vergeben kannst."

Nach dem ökumenischen Gottesdienst treffen sich die Schüler und die Angehörigen der Opfer an der Albertville-Realschule. Dort können sie miteinander die schweren Stunden des Jahrestages erleben, ihre Erinnerungen in einem Trostbuch aufschreiben oder im Raum der Stille der Opfer gedenken. Am Abend werden sie sich wieder am Marktplatz treffen und mit Fackeln in einer Lichterkette zur Albertville-Realschule gehen. Die meisten können auch nach zwei Jahren nur langsam Abstand von der Tat und dem Tatort gewinnen.

epd