Geistlicher: Türkei als Vorbild für Demokratiebewegungen

Geistlicher: Türkei als Vorbild für Demokratiebewegungen
Islamisten handeln sehr pragmatisch, wenn sie in einer Regierung sind. Das ist die Einschätzung des früheren evangelischen Auslandspfarrers in Istanbul, Holger Nollmann. Die Türkei, so der Geistliche, könne im demokratischen Aufbruch im Nahen Osten und Nordafrika nach Einschätzung eine Vorbildfunktion einnehmen. Nollmann war bis Ende Januar für die deutschsprachige Gemeinde in Istanbul zuständig.
27.02.2011
Von Holger Spierig

Seit 2002 wird die Türkei von der islamischen AKP regiert, Ministerpräsidenten ist Recep Tayyip Erdogan. In der Demokratiebewegung in der Region werde das türkische Beispiel "als ein am ehesten realistisches Modell für die islamischen Länder propagiert", sagte Nollmann, der neun Jahre die deutschsprachige evangelische Gemeinde am Bosporus leitete, in einem Gespräch des Evangelischen Pressedienstes (epd). Die Türkei sei in den vergangenen Jahren oftmals im Ausland belächelt worden, wenn sie sich als Vermittler beispielsweise zwischen Israel und Syrien anbot. "Jetzt sieht sich das Land in seinem Stolz bestätigt", sagte der 46-Jährige, der im Februar eine Pfarrstelle in Bochum übernommen hat.

Auch gegenüber den christlichen Minderheiten verhalte sich die islamische AKP-Regierung pragmatisch, erklärte der westfälische Theologe. "Die Regierung versucht, das Verhältnis der Mehrheitsgesellschaft gegenüber den christlichen Minderheiten zu normalisieren", so Nollmanns Eindruck. Sie müsse jedoch Rücksicht nehmen auf eine starke Opposition. Auch die Justiz und die Bürokratie betrachteten die religiösen Minderheiten mit Argwohn.

Regelmäßige Gottesdienste in Tarsus

Die christlichen Minderheiten beurteilten ihre Lage trotz mancher Rückschläge vorsichtig optimistisch, schilderte Nollmann. In der Pauluskirche in Tarsus könne inzwischen für Reisegruppen regelmäßig Gottesdienste gefeiert werden, auch im Sumela-Kloster im Nordosten habe es nach Jahrzehnten wieder einen Gottesdienst gegeben. Er sei zuversichtlich, dass die Regierung langfristig auch das seit Anfang der 70er Jahre geschlossene orthodoxe Priesterseminar wieder öffnen werde. Ein Rückschlag sei jedoch das Gerichtsurteil, das Anfang des Jahres dem christlichen Kloster Mor Gabriel die Eigentumsrechte aberkannt habe.

In der überwiegend muslimischen Türkei gibt es nur eine kleine christliche Minderheit. Nach inoffiziellen Schätzungen leben unter den mehr als 75 Millionen Türken rund 100.000 Christen. Zwar gibt es in der Türkei offiziell Religionsfreiheit. Die Kirchen sehen ihre Zukunft aber vor allem durch ein faktisches Verbot der Priesterausbildung gefährdet. Kirchen haben auch keinen gesicherten Rechtsstatus und können daher keine Gebäude erwerben oder bauen. Nollmann war neun Jahre in Istanbul Auslandspfarrer der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKDI). Seit Februar hat die westfälische Pfarrerin Ursula August dieses Amt übernommen.

epd