Der Wies'n-Pfarrer: "Ich nehme meine Kirche einfach mit"

Der Wies'n-Pfarrer: "Ich nehme meine Kirche einfach mit"
Etwa sechs Millionen Besucher werden sich in diesem Jahr bis zum Sonntag auf dem Münchner Oktoberfest getummelt haben. Sie haben Spaß, konsumieren und verzehren. Für den reibungslosen Ablauf sorgen unzählige Dienstleister, vor allem die Wiesn-Kellner. Unter ihnen ist auch ein katholischer Pfarrer aus München.
02.10.2010
Von Bettina Scriba

Es herbst’lt an diesem Nachmittag auf dem Münchner Oktoberfest. Der Himmel ist grau, doch dazwischen lässt sich die Sonne immer wieder blicken und wärmt die Besucher im Biergarten der Schottenhamel-Festhalle mit ihren Strahlen. Seit fünf Jahren hilft hier ein kräftiger, gut gelaunter 49-Jähriger mit, dass das Bier frisch gezapft und die Speisen schnell dem Gast serviert werden: Rainer Maria Schießler. Er ist wie alle männlichen Bedienungen des Schottenhamels gekleidet, nur ein kleines Detail unterscheidet ihn. Auf einer Holzwäscheklammer an seiner Weste steht "Christlicher Bierexpress".

Schießler ist katholischer Pfarrer in München. Jedes Jahr nimmt er in seiner Gemeinde Sankt Maximilian im Glockenbachviertel Urlaub und arbeitet als Bedienung auf der Wiesn. Im Januar 2006 lernte er Michael T. Schottenhamel aus der großen Wirtedynastie kennen und fragte spontan, ob er mitarbeiten dürfe. "Ich hab an sich damit gerechnet, dass er zweifelt, dass er sagt, naja, Pfarrer ist ja ned unbedingt typisch. Aber ganz im Gegenteil, er hat einfach ja gesagt." Am Bedienen habe Schießler nichts gereizt, vielmehr wollte er einfach mal auf die andere Seite wechseln, vom Gast in den Service. Aus dem einmaligen Erlebnis wurde ein wiederkehrendes.

Als Seelsorger und Bedienung im Einsatz

Am Wochenende trägt er pro Tag etwa 300 Maß Bier raus, an einem Werktag 150. Er spürt davon nichts. Kein Muskelkater, noch nicht mal eine Blase läuft er sich. Dabei beginnt sein Tag zwischen 8 und 9 Uhr und endet um 22:30 Uhr. Stille, ein Glas Rotwein und eine schnurrende Katze an seiner Seite sind abends die Gemütlichkeit, die er während der Wiesn braucht.

Als stressig empfindet Schießler die Arbeit auch nicht. "Wenn wir viel zu tun haben, ist es eine sportliche Angelegenheit. Wenn’s nix zu tun gibt, wenn man rumsteht, dann ist’s ein psychischer Stress." Dann leidet er auch mit den anderen Kellnern mit, die das Geld unbedingt brauchen und auch schon fest eingeplant haben. Er nutzt diese ruhigeren Phasen für Gespräche. "Und damit bin ich wieder als Seelsorger voll im Einsatz."

Seine Gäste vertrauen Rainer Maria Schießler Vieles an, doch es geht ihm bei seiner Arbeit auch um seine 200 Kollegen, von denen die Hälfte aus der Kirche ausgetreten sei. Sie haben auf einmal einen direkten Kontakt zur Kirche.

Eine Ente hilft eine Woche gegen Aids

Jeden Morgen macht Schießler (Bild links) eine Kaffeerunde mit den Bedienungen. "Dort wird gebeichtet, ohne dass ich das Wort Beichte verwenden müsste. Der Kollege würde nie zu mir in den Beichtstuhl gehen, aber ich habe ihm den Beichtstuhl hier her gebracht, durch meine Person. Nicht weil ich besser bin, sondern damit er das tun kann." Bestätigung dafür bekommt Schießler täglich. "Ich gehe hier in die Arbeitswelt hinein und nehme einfach meine Kirche mit." Von Anfang an wollte er nicht unerkannt bleiben: "Ich nehme die Kirche mit und zeige sie den Leuten – auch auf die Gefahr hin, dass ich vielleicht verspottet werde. Wenn wir irgendeine Chance haben, Kirche positiv zu verkaufen, dann müssen wir das tun."

Seine schlechteste Erfahrung als Bedienung in diesem Jahr hängt mit einer Ente zusammen. "Eine Ente kostet 21,80. Was ich daran mit Trinkgeld verdiene, reicht aus um einem Kind, das aidskrank ist, in der Elfenbeinküste für eine Woche die Medikation zu finanzieren", erklärt Schießler. Er spendet alle seine Einnahmen seit seiner ersten Wiesn 2006 an Lotti Latrous, die an der Elfenbeinküste ein Zentrum der Hoffnung aufgebaut hat.

Ein junges Mädchen bestellte bei ihm neulich eine Ente, isst einen der zwei Knödl und rupft nur etwas an der Ente rum. Schießler fragt nach, ob es ihr nicht schmecke. Sie antwortet lapidar: "Ich hab nicht so viel Hunger." Schießler ist fassungslos. "Das darf doch gar nicht wahr sein. Dafür hat ein Tier sterben müssen. Das sind für mich so grenzwertige Erfahrungen."

"Heute muss die Kirche umdenken"

Die positiven Erfahrungen überwiegen natürlich bei weitem, sonst wäre er nicht jedes Jahr aufs Neue dabei. Vor allem alte Menschen sprechen ihn oft an und sagen ihm, wie froh sie seien, dass es dieses Bild der Kirche gäbe und sie dies erleben dürften. Also dass es die Kirche wage, ganz hinab zu steigen. "Einer hat mich den Wallraff der katholischen Kirchen genannt. Ganz unten. Ganz hinab zu steigen zu den Menschen, wo sie gar nicht erwarten würden, Kirche anzutreffen."

Seine Profession ist bekannt. Gott und die Welt weiß, wer er ist. Interviews hat er schon viele gegeben. Viele kommen, um ihn zu sehen. "Ich mache die Erfahrung, dass es auch eine Kirche geben kann, die den positiven Zuspruch kriegt. Früher waren es die vollen Kirchen. Heute muss Kirche umdenken. Sie muss lernen sich so zu benehmen, dass die Menschen von sich aus kommen und sagen: Es ist gut, was du tust."

Nicht alle in der katholischen Kirche heißen seine Mitarbeit auf dem Oktoberfest gut. Doch das nimmt er gelassen. "Wir haben jetzt dafür Sorge zu tragen, dass in 30, 40 Jahren Evangelium noch verkündet wird. Wenn wir heute leere Kirchen haben, ist das nicht mein Fehler. Ich mache seit 20 Jahren Evangeliumsverkündigung, und ich glaube ich mache es nicht so, dass es die Kirche leert. Sondern es ist das Ergebnis der Arbeit der Kirche der letzten fünf Jahrzehnte."

Ein Gottesdienst ist keine theologische Versammlung

Seine Kollegen reden ihn zum Teil wird Hochwürden an. "Mit einem gewissen Prozentsatz an Witz, an Ehrfurcht und vor allem aber an Stolz, dass sie ihrem Pfarrer so nahe kommen können", beschreibt Schießler die Begrüßung. Und auch für die Familie Schottenhamel ist es etwas ganz Besonderes, dass ein Pfarrer bedient.

"Immer so reden, dass die Leute Dich verstehen", das ist die Lehre, die Pfarrer Schießler von der Wiesn in seinen Alltag mitnimmt. "Ich glaube, wir haben deshalb leere Kirchen, weil wir eine Verkündigung betreiben, die die Leute nicht mehr verstehen. Weil wir den Sonntagsgottesdienst mit einer theologischen Versammlung verwechseln. Da sitzen aber ganz einfache Leute drin und kein einziger Theologe."

Die Jubiläums-Wiesn "200 Jahre Oktoberfest" dauert noch bis zum Montag, 4. Oktober 2010. Damit kann auf dem größten Volksfest der Welt in diesem Jahr sogar einen Tag länger als sonst gefeiert werden. Und ist Schießler bei der Wiesn 2011 wieder dabei? "Wenn’s mental und körperlich klappt – ja."


Bettina Scriba arbeitet als Freie Journalistin in München mit Schwerpunkt Hörfunk und Print und schreibt auch für evangelisch.de.