"Luther hätte schnell verstanden, was ich hier mache"

"Luther hätte schnell verstanden, was ich hier mache"
Martin Luther auf einen Meter geschrumpft und in Plastik: 800 Miniaturausgaben des Wittenberger Reformators in den Farben purpurrot, moosgrün, kobaltblau und schwarz sind von Samstag an auf dem Wittenberger Marktplatz zu bewundern. Sie ersetzen das berühmte Lutherdenkmal von Johann Gottfried Schadow, das zurzeit restauriert wird. Die Aktion des Künstlers Ottmar Hörl, die es am Donnerstag sogar auf die Titelseite der "Süddeutschen Zeitung" schaffte, sorgt schon vor der Eröffnung für heftige Diskussionen. Der Pfarrer und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer hat heftig protestiert, der Unternehmensberater Klaus Kocks nennt die Lutherzwerge "peinlich und kontraproduktiv". Im Gespräch mit evangelisch.de hält Ottmar Hörl dagegen: "Luther hätte sehr schnell verstanden, was ich hier mache", so der 60-jährige Künstler.

evangelisch.de: Sie haben schon zahlreiche Kunstprojekte im öffentlichen Raum gestaltet, von den Dürerhasen in Nürnberg bis zu den Straubinger Hitlerzwergen. Nun wenden Sie sich zum ersten Mal einem christlichen Thema zu.

Ottmar Hörl: Das stimmt. Man kann die Figur Martin Luther natürlich unter christlichen Gesichtspunkten betrachten.

evangelisch.de: Was bedeutet Ihnen Luther?

Hörl: Er war ein unfreiwilliger Revolutionär und hat ganz Mitteleuropa durcheinandergebracht. Viele Impulse der damaligen Zeit gingen auf ihn zurück. Ich bin nicht so sehr jemand, der von seinem Glauben beseelt ist – für mich ist Martin Luther eine politische Figur, die ganz stark die Sozialstruktur einer Gesellschaft verändert hat.

evangelisch.de: In seinen jungen Jahren war er ein Stürmer und Dränger. Sie stellen ihn als gesetzten älteren Herrn dar. War das eine Vorgabe oder eine bewusste Entscheidung von Ihnen?

Hörl: Ich habe nie Vorgaben, sondern versuche immer, bei dem schon vorhandenen Material zu bleiben. Die Figur ist abgeleitet von dem Wittenberger Luther-Denkmal von Schadow [das dpa-Foto rechts entstand beim Abtransport des Denkmals in die Restaurationswerkstätte im April 2010] – übrigens eine der besten Darstellungen. Luther selbst hat natürlich überhaupt keinen Wert auf ein Denkmal gelegt – das ist auch etwas, was mich an ihm interessiert. Er lehnte sich als Bürgerlicher so weit aus dem Fenster, aber dieser adelige Impuls, sich auf einen Sockel stellen zu wollen, war ihm fremd. Ich versuche, ein zeitgenössisches Bild zu entwickeln und einen Impuls dafür zu geben, sich über die Person Luther zu informieren und was davon übrig ist für das 21. Jahrhundert. Was sagt uns das heute noch? Ich bringe keine neue Ideologie mit und auch keine neue künstlerische Ästhetik.

evangelisch.de: Was erwarten Sie von der Wittenberger Aktion?

Hörl: Eine Arbeit wie diese sollte so angelegt sein, dass sie in der Lage ist zu kommunizieren. Das merke ich hier auch schon. Luther ist ein europäisches Thema, ja ein Weltthema, und die Menschen stellen fortwährend Fragen dazu. Sie wissen gar nicht so genau, was das alles letztendlich bedeutet. Dass diese Arbeit vielleicht eine Art Feedback an Bildung auslöst, finde ich einen sehr guten Nebeneffekt. Aber ich erwarte nichts Besonderes. Eine künstlerische Arbeit im öffentlichen Raum ist ein Kommunikationsmodell, bei dem sich Menschen streiten und mit Bildern beschäftigen. Es geht nicht darum, dass sie danach mehr von Kunst verstehen, sondern darum, dass sie sich überhaupt gerne mit Kunst auseinandersetzen.

evangelisch.de: Ein Kritiker hat vor kurzem gesagt, wenn Luther diese bunten Zwerge sähe, würde er mit dem Tintenfass nach Ihnen werfen. Ehrt Sie das?

Hörl: Bei der seriellen Idee geht es darum, etwas so zu gestalten, dass viele Menschen daran teilnehmen können. Dürer, Luther und viele andere haben damals angefangen, ihre Arbeit als eine Art von Aufklärung zu verstehen. Wenn der Buchdruck damals nicht gewesen wäre, hätten sie das nicht tun können. Dürer hat seine Radierungen auf Messen in Serie verkauft. Luther hätte sehr schnell verstanden, was ich hier mache – und zwar eher als viele andere.

evangelisch.de: Steckt dahinter eine bestimmte Kunstauffassung?

Hörl: Ja, viele leben da immer noch im 19. Jahrhundert – Künstler malen ein Bild, der Kunsthändler versucht den Preis innerhalb kürzester Zeit auf zwei Millionen zu bringen, damit zwei Menschen unglaublich viel Geld verdienen. Das kann es ja wohl nicht sein in der Kultur und Kunst. Diese Diskussion halte ich im 21. Jahrhundert für vollkommen überflüssig. Viele Bürger wollen immer noch Adelige sein, ihr Häuschen soll wie ein Schlösschen aussehen, und sie wollen etwas haben, das sonst niemand hat. Mich interessiert dieser Gedanke nicht, und das verbindet mich mit den Aufklärern in der Geschichte.

evangelisch.de: Aber es kommt Ihnen zugute, dass wir im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Kunst leben ...

Hörl: ... ja selbstverständlich. Das ist ja auch meine Zeit. Ich habe das gelernt von den Menschen, die ich als Künstler gut finde, etwa von Joseph Beuys mit seiner Idee der sozialen Plastik. Marcel Duchamps und Andy Warhol haben angefangen, bildnerisch umzusetzen, was die Menschen tatsächlich bewegt und was sie leben. Die Intuitionskiste von Beuys hat damals zwölf D-Mark gekostet – das finde ich fantastisch. Da merkte man, dass Kunst und die Vermittlung von künstlerischen Gedanken nicht wirklich etwas mit Geld zu tun hat, sondern mit dem Willen, möglichst viele Menschen zu erreichen.

evangelisch.de: Eine Lutherfigur kostet 250 Euro – dafür muss eine protestantische Oma lange stricken.

Hörl: Das ist eine Preiskalkulation, die mit den Herstellungskosten zu tun hat. Das Projekt kostet 250.000 Euro. Ich finanziere das selbst. Die Entwicklung einer Figur von einem Meter Höhe hat bis zur Serienreife ungefähr 35.000 Euro gekostet. In der Herstellung kostet jede Figur 75 Euro. Dann habe ich noch einen Handel – jeder will ein bisschen verdienen und sein Geld zurückhaben. Im Kunstmarkt finden Sie kein Produkt für 250 Euro. Das heißt, ich bin der günstigste Anbieter für künstlerische Produkte weltweit. Ich habe da kein schlechtes Gewissen.

evangelisch.de: Es gibt 800 Lutherfiguren. Ist die Zahl bewusst gewählt oder hat das rationale Gründe?

Hörl: Es gehen einfach nicht mehr auf den Wittenberger Marktplatz. Ich muss ja die Spielregeln wie Feuerwehrzufahrten oder Caféstühle beachten. Es war einfach nicht mehr rauszuholen. Sonst hätte ich mehr reingestellt.

evangelisch.de: Werden sich die Wittenberger die kleinen Luthers nicht heimlich nach Hause holen?

Hörl: Die Arbeit selbst ist bewacht. Den Wachdienst finanziere ich selbst, wie auch die gesamte Öffentlichkeitsarbeit – nur damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, warum die Figuren 250 Euro kosten. Die Figuren werden auf 50 große Platten montiert, und diese auf ein Gerüst.

evangelisch.de: Wie ist Ihr Eindruck von Wittenberg, wie ist die Atmosphäre in der Stadt?

Hörl: Phantastisch.

evangelisch.de: Lebt Luthers Geist hier weiter?

Hörl: Ohne Luther käme hier kein Schwein hin. Aber immerhin hat Wittenberg drei Figuren – Melanchthon, Lucas Cranach und Luther. Jede deutsche Stadt würde sich die Finger danach lecken. Ich habe das Gefühl, die Wittenberger haben noch gar nicht richtig realisiert, was sie da haben. Ich bin ja Frankfurter – wir haben Goethe und ziemlich viel daraus gemacht. Das kann man in Wittenberg ausbauen. Die Stadt ist wunderschön, eine schön restaurierte Renaissancestadt. Der Geist von Luther ist hier unumgänglich und an vielen Stellen spürbar. Hier sind die Thesen an die Kirchentüren geschlagen worden, hier ist seine Predigtkirche. Viele evangelische Christen kommen hierher. Dadurch erhält sich natürlich dieser Gedanke. Aber es ist auch eine wunderschöne Elblandschaft. Ich selbst bin auch erst durch die Einladung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) nach Wittenberg gekommen und wusste zuvor gar nicht, wie schön diese alten preußischen Städte sind.


Professor Ottmar Hörl (60) ist Präsident der Akademie für Bildende Künste in Nürnberg. Er ist vor allem durch seine Werke im öffentlichen Raum bekannt geworden. Schlagzeilen machten vor allem die "Dürer-Hasen" 2003 auf dem Nürnberger Hauptmarkt sowie im vergangenen Jahr die Straubinger Gartenzwerge, die den Hitlergruß zeigten. Hörl gestaltete zudem das "Blaue Haus" in Ravensburg, das Euro-Symbol vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main und vieles mehr. Hörl wurde 1950 in Nauheim bei Groß-Gerau geboren. Seine Ausbildung machte er an der Frankfurter Städelschule sowie an der Hochschule für Bildende Künste in Düsseldorf. Die Installation "Martin Luther: Hier stehe ich ..." ist von Samstag an bis zum 12. September auf dem Marktplatz der Lutherstadt Wittenberg zu sehen.