Eine Gesellschaft ohne Autos: Albtraum oder Vision?

Eine Gesellschaft ohne Autos: Albtraum oder Vision?
Auch wenn es unvorstellbar erscheint: Wir könnten (fast) komplett ohne Autos leben. Gesund, billig, bequem - und mit Hunderttausenden Opfern weniger. Wir müssen nur wollen, sagt der bekennende Autohasser und Buchautor Klaus Gietinger aus Frankfurt. Selbst überzeugte Autofans geben zu: Seine Argumente sind schwer widerlegbar.
16.07.2010
Von Thomas Östreicher

Vor sich ein frisch gepresster Orangensaft, auf dem Kopf ein Sommerhut. Der gemütlich-kräftige Mittfünfziger mit Schnauzbart, Nickelbrille und leicht abgewetzter Bahnhofsuhr am Handgelenk wirkt, als könne er kein Wässerchen trüben. Dabei führt er Übles im Schilde: Er will den Deutschen ihre Autos wegnehmen. Mehr noch: allen anderen Menschen auf der Welt auch. Er lacht sogar dabei. Ist der Mann irre?

Abstreiten würde er es jedenfalls nicht. Klaus Gietinger (links, Foto: Bärbel Högner) hat eine mehr als verrückte Idee. Die Vision einer Gesellschaft, die dem motorisierten Individualverkehr (MIV) entsagt. So wie das staatskommunistisch-autoritäre Albanien vor 20 Jahren: ein Land ohne private Autos, Lkws, Motorräder. 

Zunächst wenig verlockende Vision

Klaus Gietinger nennt sich selbst einen Autohasser, und seine Vision klingt zunächst so verlockend wie ein Leben ohne Fernseher, fließendes Wasser oder Internet. Und genauso realistisch.

Wenn er aber anfängt zu argumentieren, wenn er, wie es seine Art ist, herzhaft lachend Dutzende Fakten und Anekdoten auspackt, wird man zunehmend nachdenklich. Und das "Ja, aber …" zur Verteidigung des Autos kommt von Mal zu Mal kleinlauter.

Die besseren Argumente hat Gietinger allemal. Einige der wichtigsten:

  • Das Auto tötet mehr Menschen als alle Kriege, Seuchen und Naturkatastrophen zusammen. 1,2 Millionen Menschen ließen in Deutschland, Schweiz und Österreich seit Ende des Zweiten Weltkriegs verkehrsbedingt ihr Leben. Weltweit sind es 3.000 – täglich. So viele Tote wie bei zehn Jumbojetabstürzen, zwei Titanic-Untergängen oder dem Angriff auf das World Trade Center. Seit Erfindung des Autos starben 42 Millionen Menschen durch Unfälle, noch einmal doppelt so viele durch autobedingte Umweltverschmutzung.
     
  • Die Energiebilanz eines Autos ist wegen des - verglichen mit Schienenfahrzeugen - immensen Rollwiderstands und des großen Gewichts beschämend. Ein VW Golf ist aktuell 1,6 Tonnen schwer und bewegt im Schnitt 1,4 Personen - absurd.
     
  • Der vermeintliche Bequemlichkeitsgewinn per Pkw täuscht. Vor 50 Jahren legten wir 3,5 Wege am Tag zurück und brauchten dafür 75 Minuten. Beide Werte sind etwa gleichgeblieben, aber wir bewegen uns schneller als früher viel weiter als früher - weil Job, Supermarkt und Kinocenter so entfernt liegen. Gewinn für uns: gleich null.
     
  • Das Auto ist bei der Herstellung seiner Komponenten und durch die Verbrennungsabgase ein Umweltverschmutzer und Klimakiller ersten Ranges.
     
  • In jeder Straße ist zu sehen: Der Flächenverbrauch fahrender wie stehender Autos ist groß. So groß, sagt Gietinger, dass es nie genug Straßen und Parkplätze geben könne.
     
  • Autos machen Krach. "Ab Tempo 40 sind die Rollgeräusche der Kfz lauter als ihr Motor", stellt der Verkehrsexperte fest. Das Getöse bedeutet für alle Lebewesen permanenten Stress.
     
  • Je höher die Pkw-Dichte ist, desto langsamer die Geschwindigkeit. In der Autostadt Los Angeles beträgt sie 20 km/h - das schafft auch ein durchschnittlicher Fahrradfahrer.
     
  • Das Auto spart Zeit? In der Stadt keineswegs und auch auf dem Land nur scheinbar. Denn wer die Kosten seines Fahrzeugs ehrlich bilanziert und die vielen Stunden berücksichtigt, die er dafür arbeiten muss, erhält ein ganz anderes Ergebnis. Dazu kommt der sonstige Zeitaufwand für das Gefährt wie Tanken, Wartung, Reparaturen, Reinigung und Verletzungen nach Unfällen.

Alternativen wären möglich - und finanzierbar

Aus diesen und weiteren Fakten zieht der im verkehrsgebeutelten Frankfurt am Main lebende Klaus Gietinger nur einen Schluss: "Der MIV muss weg." Dass so etwas provoziert, gibt er gern zu. In seiner im Frühjahr 2010 erschienenen Polemik "Totalschaden. Das Autohasserbuch" (Westend-Verlag, 316 S., 16,95 €) lässt er den Autofans trotzdem keine Chance.

Das Argument "Ich wohne auf dem Land, da brauche ich ein Auto" pariert Gietinger mit der Feststellung: "Du wohnst auf dem Land, weil du ein Auto hast, nicht umgekehrt." Richtig ist auch: Mit all dem Geld, das uns das Auto, die Schäden, die es verursacht, und die als fürs private Fahren zwingend nötig befundene Infrastruktur wert sind, wäre ein luxuriöser Nahverkehr für alle finanzierbar.

Zwischen all die Sachargumente gegen den mobilen Wahnsinn flicht Gietinger in seinem Buch Protokolle der letzten Stunden prominenter Verkehrstoter ein sowie teils drastische Beschreibungen seines eigenen "Lebens als Gaffer", als Unfallzeuge. Wer als Leser ehrlich ist, stellt unwillkürlich fest: Leichen pflastern unsere Wege. Auch eine Definition von Freiheit.

Raser finden milde Richter

Es ist ein seltsamer Automatismus: Verspätungen und sonstige Fehler der Bahn werden der Bahn als System angelastet. Staus dagegen erleben viele schlicht als höhere Gewalt, die den Sinn des Autos nicht grundsätzlich infrage stellen. Auch Autounfälle werden meist als schicksalhaft empfunden und nicht als von Menschen verursacht.

Gietinger bescheinigt dem Automobil und seinen Lenkern darum eine "eingebaute Vorfahrt mit Tötungsvorbehalt", milde Richter inklusive. Ein womöglich betrunkener Raser, der mit dem Auto tötet, steht praktisch nie wegen Mordes oder Totschlags vor Gericht - in dubio pro Auto.

Klaus Gietinger spricht vom Autofahren als Drogensucht, mit Millionen Junkies auf der Straße und einem regierenden Drogenkartell aus Auto- und Mineralölkonzernen nebst ergebenen Politikern. Er selbst hatte seinen Drogenentzug bereits vor 25 Jahren, als er seinen eigenen Wagen abschaffte: "Das war wirklich eine Befreiung", erinnert er sich. Selbst in seiner Heimat Allgäu kommt es inzwischen vor, dass ein Stadtrat die Hauptstraße eines Orts zur Tempo-20-Zone erklärt.

Entzug für Auto-Junkies

Bleibt die Frage, wie es wohl möglich ist, die vielen Auto-Junkies zu entziehen. "Das ist natürlich das große Problem", räumt Klaus Gietinger ein. "Da kann ich nur an die Vernunft appellieren. Aber für die wirklichen Junkies hätte ich eine Idee: Die bekommen Motodrome, wo sie so lange und so schnell fahren können, wie sie wollen." Als eine Art Druckraum für Süchtige.

Die sich den offensichtlichsten Realitäten beharrlich verweigern. "Da staunen selbst hochgebildete Leute, wenn sie beim Betriebskostenrechner der Zeitschrift Auto Motor & Sport sehen, was ihr Auto wirklich kostet - mit allen Nebenkosten und Wertverlust. Das glauben die einfach nicht."

Er sieht aber auch ein: "Der Verzicht aufs Auto muss allgemeiner Konsens sein. Was zum Teil schon der Fall ist. In Umfragen sprechen sich 65 Prozent für autofreie Innenstädte aus. Und wer hätte jemals gedacht, dass in den Kneipen eines Tages nicht mehr geraucht werden darf und die Mehrheit das gut findet?"

"Eine Überlebensfrage"

Auf einem Gewerkschaftskongress im Herbst 2010 wird er sich bei der Diskussion um die Frage beteiligen, in welcher Branche die Beschäftigten der Autoindustrie sinnvollerweise eingesetzt werden könnten. Als Film- und Buchautor pflegt Gietinger ohnehin eine Vorliebe für große Zusammenhänge und historische Stoffe. So hat er vor einiger Zeit eine vielbeachtete Recherche über die Hintergründe der Ermordung von Rosa Luxemburg vorgelegt.

Das grundlegende Umsteuern in der Verkehrspolitik braucht offenbar einen langen Atem und hartnäckige Bürgerinnen und Bürger, die sich für eine bessere öffentliche Versorgung einsetzen, gerade auf dem Land. Mehr als zwei Millionen Menschen feierten fröhlich auf dem gesperrten Autobahnteilstück der A40 im Juli 2010. Ob der motorisierte Individualverkehr tatsächlich eines Tages Geschichte sein wird, die heute vollgeparkten Straßen und Alleen dereinst wieder zum Flanieren einladen werden? "Wir wollen's hoffen", sagt Klaus Gietinger und lacht. Und fügt ernst hinzu: "Es ist auch eine Überlebensfrage."


Thomas Östreicher ist freier Mitarbeiter bei evangelisch.de.