Junge Autoren in Argentinien: Erzählen, um zu überleben

Junge Autoren in Argentinien: Erzählen, um zu überleben
Argentinien ist Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse - eine junge Generation von Autoren befasst sich mit einem traumatischen Kapitel seiner Vergangenheit: der Militärjunta. Bei einer Tagung in Arnoldshain erzählten drei Schriftsteller ihre persönlichen Geschichten und wie daraus Romane wurden.
16.07.2010
Von Karola Kallweit

Die Dringlichkeit, diese eine bestimmte Geschichte zu erzählen. Nicht gestern und auch nicht morgen, sondern genau jetzt. Das haben sie alle verspürt – Laura Alcoba, Marcelo Figueras und Pablos Ramos. Drei argentinische Autoren, die über das Schreiben versucht haben, das Grauen von damals zu verstehen. Mal offensichtlich und bisweilen dezent in den Verweisen beschreiben sie die Ereignisse, die zum Trauma einer ganzen Gesellschaft wurden. Ein Trauma, das bis heute nicht verarbeitet ist.

Pünktlich zum 200-jährigen Bestehen als Nationalstaat ist Argentinien in diesem Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse. Unter dem Titel "Der andere Blick. Aspekte argentinischer Gegenwartsliteratur" fand vor kurzem eine Tagung im Taunus statt. Fernab von zivilisatorischer Geschäftigkeit trafen die eingeladenen Schriftsteller auf eine Runde aus Experten, Literaturliebhabern und Kennern des Kulturbetriebs. Eingeladen hatte die Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika, litprom, zusammen mit der Evangelischen Akademie Villigst, um im fast schon familiären Rahmen eine Debatte über Inhalte, Poetologie und Rezeption argentinischer Literatur anzustrengen.

Man könnte annehmen, dass staatlich verordneter Terror und Unterdrückung immer ein gutes, weil gut zu verkaufendes Sujet für Schriftsteller ist. Der politische und menschliche Konflikt eignet sich wegen der ihm innewohnenden Dramatik hervorragend für jegliche Prosa. Doch das wäre zu kurz gegriffen. Gerade die in den 1960er Jahren Geborenen haben die argentinische Militärdiktatur, die von 1976 bis 1983 das Land in seinen Grundfesten erschütterte, als Kinder und Jugendliche miterlebt. So sind die Schriftsteller dieser Generation nicht nur das Gedächtnis einer Nation, sie sind auch Überlebende. Und so sehen sie es als ihren Auftrag an, den Toten und den Überlebenden eine Stimme zu geben.

Reich und Arm driften immer weiter auseinander

Die kollabierte Wirtschaft Argentiniens, das vor neun Jahren den Staatsbankrott einräumen musste, oder der gesellschaftliche Kurs des Landes, der Arme und Reiche immer weiter auseinanderdriften lässt – eigneten sich solche Themen nicht viel mehr für eine Literatur, die inhaltlich zeitgenössisch sein möchte? Laura Alcoba verwahrt sich vor zu kurzfristig angelegten literarischen Analysen aktueller Realitäten: "Es ist nicht so, dass mich die Gegenwart nicht interessiert aber ich musste erst einmal diese Geschichte aufschreiben." Die Betrachtung des Gegenstands in ihrem Roman "Das Kaninchenhaus" brauchte diesen zeitlichen Filter.

Laura Alcoba (Foto) wurde 1968 in La Plata geboren. Mit zehn Jahren ging sie mit ihrer Mutter ins Exil nach Frankreich. Ihre Sprache, so sagt sie, sei das Französische. Das " Kaninchenhaus" habe sie nicht in ihrer Muttersprache geschrieben, so sagt sie, weil die Geschichte ihr im Argentinischen immer noch sehr nah gehe: "Da liegt die Wucht der Geschichte." Als Laura Alcoba während der Tagung einige Kapitel aus dem Buch vorliest, überwältigt sie die Erinnerung. Die Stimme der zierlichen Autorin beginnt zu stocken und dann bricht sie weg. Es ist eine Pause, die nicht peinlich berührt, es ist eine Pause, in der Vergangenheit und Gegenwart ineinandergreifen. Wenn sie weine, sagt sie später, spüre sie, dass sie lebendig sei.

Druckerpresse statt Kaninchenzucht

Erst 2003 begann Alcoba mit der Arbeit an dem Roman. Im Jahr der Geburt ihrer Tochter. Ihr Material – die Geschichte ihrer Familie. Es passierte aus einem Gefühl der Schuld heraus, sagt sie. Überleben sei eine Schuld. Erzählt wird die auf biografischen Erlebnissen beruhende Geschichte aus der Sicht der siebenjährigen Laura. Sie lebt mit ihren Eltern in einem heruntergekommen Haus am Rande von La Plata. Während die Außenwelt dort eine Kaninchenzucht vermutet, betreiben die Eltern im Inneren eine geheime Druckerpresse der Widerstandsbewegung. Eindringlich beschreibt die Autorin die naive Freude des Mädchens über eine fremde Welt und den Zauber, den diese birgt. Aber der Roman erzählt auch von Lauras Traurigkeit über das, was sie nicht versteht und die Leerstellen, die der kindliche Intellekt nicht mit Inhalt zu füllen vermag.

Mit welchem Recht, so hat sich Laura Alcoba anfangs stets gefragt, darf sie eine Geschichte erzählen, die ihre Eltern verschwiegen? Heimlich begann sie zu schreiben. Zur Recherche jedoch musste sie nach Argentinien in das "Kaninchenhaus" zurückkehren. Unter einem Vorwand nahm sie die Mutter mit. Erst im Flugzeug offenbarte sie ihr den eigentlichen Zweck der Reise. Die Mutter verstand. Aber das Haus betreten, das konnte sie nicht. Laura hingegen kehrte heim. Leistete die Erinnerungsarbeit für ihre Mutter, eine Überlebende. Leistete auch ihre eigene Erinnerungsarbeit, denn auch sie hat überlebt. Viel später, als der Roman dann fertig war, wird die Mutter sagen: "Ich wusste gar nicht, dass du dich an so viele Dinge erinnerst."

Wie riesige Krakenarme

Die Zeit vergeht schneller, als die Vergangenheit bewältigt werden kann. Die Folgen der Militärjunta sind in der argentinischen Gesellschaft immer noch spürbar. Wie riesige Krakenarme umschlingt das Trauma die Gegenwart und lässt die Überlebenden bis heute nicht ruhen. Fast hat sich in manchen Schichten eine gewisse Apathatie gegenüber dem Gegenstand entwickelt. Der aktuelle Prozess gegen Ex-Diktator Jorge Rafael Videla und 30 weitere Angeklagte in Córdoba - 24 Jahre nach seiner ersten Verurteilung - zeigt, dass die Drahtzieher von damals immer noch kein Schuldbewusstsein haben.

Die unfassbare Brutalität, mit der das Regime ihre Gegner damals umbrachte, die vielen Namenlosen, die in den Massengräbern verschwanden – nichts davon scheint die Täter zu berühren. So wird sich die argentinische Gesellschaft mindestens die nächsten sechs Monate wieder mit einem sehr dunklen Kapitel ihrer Geschichte befassen – ohne das es zu einer tatsächlichen Aufarbeitung der Vergangenheit, zu einer Versöhnung kommt.

Schreiben für die Gerechtigkeit, genau hierin liegt der Motor des Schreibens für Marcelo Figueras (Foto rechts): "Man muss die Geschichte jetzt erzählen. Nur so kann man verhindern, dass gleiche Generationen nachwachsen." 1962 in Buenos Aires geboren, rekonstruiert Figueras die Ereignisse von damals in seinem Roman "Kamtschatka". Auch seine Geschichte ist von autobiografischen Erlebnissen inspiriert und durch die Augen eines Kindes geschildert. Der zehnjährige Harry muss mit seiner Familie untertauchen. Die Eltern verschweigen die Wahrheit und gestalten die Reise für ihre Kinder als Spiel.

Für die Kinder wird die Flucht als Spiel inszeniert

Was für die Eltern Flucht und Überlebensstrategie ist, ist für die Kinder zunächst auch ein Abenteuer. Kamtschatka ist die Chiffre für den Ort, den der Vater hält wie die letzte Bastion in einem Krieg, der kaum zu gewinnen ist. Kamtschatka ist ein Ort der Sicherheit. Er habe eine Huldigung an das Überleben schreiben wollte, an die Zeit bevor man entführt und umgebracht wurde, sagt Figueras. In der Widmung des Autors ist zu lesen: "Ich möchte dieses Buch meiner Familie widmen: meinem Vater und meiner Mutter, meinen Onkeln und Tanten, meinen Großeltern, die meine Geschwister und mich in einem Umfeld voller Liebe aufzogen, die es möglich machte, dass unsere Seelen in den Jahren überlebten, die wir Argentinier in Kamtschatka lebten."

Marcelo Figueras ist ein Getriebener, genau wie Laura Alcoba. Der Verlust der eigenen Unschuld, des Lebens ohne Angst, als die Diktatur begann, wird zum prägenden Ereignis für Figueras. "Als Jugendlicher hatte ich Angst an einem Samstagabend vor die Tür zu gehen", sagt er. Eine Angst, die man ihm heute nicht mehr ansieht. An diesem Wochenende unterhält er sich mit vielen Teilnehmern der Tagung. Er nimmt sich für jeden Zeit, um über Kamtschatka zu sprechen, über Israel und warum er die Geschichte seines neuen Romans in den Nahen Osten verlegt hat. Die einzige Pause, die er an diesem Wochenende macht, sind 90 Minuten Fußballspiel im Fernsehen. Argentinien gegen Deutschland.

Wie tickt dieses Land, dessen Bild jenseits der Ozeane von den üblichen Klischees bestimmt ist, das von seine Nachbarstaaten oftmals wegen seiner Arroganz abgestraft wird und das seine im Ausland populärsten Nationalhelden Eva Peron und Diego Maradona einem ewig tanzenden Tangopaar gleich, auf das Parkett der argentinischen Geschichte geschickt hat? Argentinien ist all dies und mehr. Über sein kulturelles Gedächtnis lässt sich dieses mehr erfassen. Die anwesenden Experten auf der Tagung bescheinigen dem Land kolossale Kreativität, die ihren Ursprung in der intensiven Erfahrung des Kulturaustauschs finde.

Verbindungen nach Europa nie ganz gekappt

Millionen von Einwanderern aus Italien, Spanien oder Deutschland suchten ihre eigenen Traditionen mit neuen Heimat in Einklang zu bringen. Dabei kappten sie ihre Verbindung zum europäischen Festland und den Ideen nie ganz. Sie fühlen sich argentinisch aber gleichzeitig sind sie sich ihrer jeweiligen europäischen Herkunft sehr bewusst. Die Weltneugier, die man ihnen bescheinigt, entspringt eben diesem Leben im Bannkreis verschiedener Kulturen. Buenos Aires genießt im globalen Kulturbetrieb den Ruf, eine der spannendsten Kunstszenen weltweit zu beherbergen. Menschenvolle Buchläden in tiefer Nacht – kein ungewöhnlicher Anblick während eines Spaziergangs über die Avenuen der Metropole.

Marcelo Figueras lebt derzeit in Barcelona. Wie seine Vorfahren, die einst über den Ozean in eine unbekannte Zukunft aufbrachen, ist er gereist und vorerst in der "alten Heimat" angekommen. Er ist ein Abenteurer, der zwischen den beruflichen Genres manövriert. Er arbeitet heute als Journalist, Drehbuchschreiber und Schriftsteller. Etwas sehr Typisches für den argentinischen Literatur- und Kulturbetrieb, in dem die Übergänge zwischen den Berufen fließend sind. Viele Schriftsteller sind auch Journalisten oder umgekehrt. Es ist ein anderes Verständnis von der Rolle eines Autors, eines Schreibenden. Überhaupt eine andere Vorstellung davon, wer schreiben darf.

Näher dran am Menschen

So sind die Leserbriefe, die Laura Alcoba aus Argentinien erhält, seit ihr Buch dort erschienen ist und in jeder Leihbücherei des Landes steht, fast schon ein eigenes Genre. Viele von ihnen gehen nicht auf ihre Geschichte ein, sondern erzählen eine ganz eigene: "Ich kenne Dich zwar nicht …" ist die Einstiegsformel in vielen dieser Briefe. Fast scheint es, als wären die argentinischen Autoren näher dran am Menschen. Als würden Leser und Rezipient miteinander sprechen und als wäre diese Kommunikation Teil des literarischen Werks.

Er ist erst spät zur Literatur gekommen. Pablo Ramos (Foto), eigentlich Musiker, wurde 1967 in Il Viaducto, einem ärmlichen Stadtteil von Buenos Aires geboren. Sein jungenhaftes Wesen ist wohl ein Überbleibsel aus Kindheits- und Jugendtagen. Er wuselt sich durch die Tagung hat für die Damen immer ein Lächeln und Augenzwinkern übrig. Als der offizielle Teil der Tagung vorbei ist, spielt Ramos Gitarre, singt und liest argentinische Lyrik.

Das vergangene Jahr war auch Ramos, wie seine beiden Kollegen, im sogenannten Exil. Als DAAD-Stipendiat lebte er mit seiner Familie in Berlin und hat dort gearbeitet. Mit seinem 2007 erschienenen Roman "Der Ursprung der Traurigkeit" hat Ramos eine ganz eigene Poetik geschaffen. Eine Arbeiterpoesie, so sagt er, in der Realität, Mystik und Spiritualität aufeinanderträfen. Die Geschichte, die er erzählt, ist seine Geschichte: "Das ist mein Buch, das bin ich, keine Theorie." Er beschreibt die Welt eines Arbeiterkindes in seinem spezifischen Milieu. Mit viel Witz und viel Tragik offenbart er den Kosmos einer Figur in seiner Auseinadersetzung mit der Welt.

Auch sein Protagonist leidet unter der Geschichte Argentiniens, nur spielt dieser Roman im Gegensatz zu denen von Figueras und Alcobas, nach dem Ende der Militärdiktatur. Das Land ist zu diesem Zeitpunkt schwer angeschlagen, wirtschaftlich und viel wichtiger: gesellschaftlich. Ramos bestätigt, was man an als Tagungsteilnehmer mittlerweile ahnt. Auch er habe sich schuldig gefühlt. "Wo die Unschuld aufhört, da beginnt die Traurigkeit." Doch warum hat er diesen Titel gewählt? Der Titel des Romans ist Programm. Er habe soviel erzählen wollen, dass er irgendwann zurückgehen musste. Zum Ursprung. Einer seiner besten Freunde sei bei der Polizei gewesen und dann während der Diktatur erschossen worden. Ein Einschnitt.

Tod einer gesellschaftlichen Utopie

Im Leben aller drei Autoren gibt es immer zwei Zäsuren: 1976, der Beginn der Junta und Tod der gesellschaftlichen Utopie, und die eine ganz persönliche Schreckensgeschichte. Der eine Auslöser, der einen schuldig fühlen lässt, manchmal für den Rest des Lebens. "Es gibt zwei Sorten von Erinnerung, die eine ist Schuld und Trauma, die kommt immer wieder, die andere ist die, die zum Vergessen führt", sagt Alcoba. Im Original lautet der Titel "Manèges", was übersetzt soviel wie Karussell bedeutet. Erinnerung, so sagt sie, sei wie ein Karussell. Wenn man sich erinnere um zu vergessen, mache man das um aus diesem Karussell herauszukommen, um die Zeit wieder zum Laufen zu bekommen.

Bislang kennt man in Europa vor allem Borges und Cortázar als die Zugpferde der argentinischen Literatur, in der neben der fantastischen immer auch eine sehr starke intellektuelle Tradition dominiert hat. Neuerdings aber scheuen sich die Schriftsteller jüngerer Generationen nicht mehr, offen über ihre Seelenlage zu sprechen und verweisen auf den emotionalen Heilungsprozess durch das Schreiben. So spricht Alcoba von ihrem "emotionalen Gewebe", einem "Ursprungsgewebe", Pablos Ramos trauert einem verlorenen Paradies hinterher und Figueras unterstreicht die Waghalsigkeit seines empfindsamen Geständnisses: "Ich habe gewagt, was eigentlich verboten ist", sagt Figueras, "ich habe ein Universum an Stimmungen, Gefühlen und Humor beschrieben".

Die alten Bekannten Borges und Cortázar

Diese Hinwendung zum Gefühl und die Offenheit im Umgang mit den eigenen Biografie sei etwas Neues in der argentinischen Literatur, sagt Figueras. Roland Spiller vom Institut f uuml;r Romanische Sprachen und Literaturen der Goethe-Universität Frankfurt sieht indes noch keinen Pradigmenwechsel. Auch ein Borges habe gefühlvolle Lyrik produziert. Allerdings, so stellt er fest, sei zumindest die Diktatur das bestimmende Thema in der argentinischen Literatur. Nun mögen sich die Experten streiten, ob sich so etwas wie eine neue Poetik des Gefühls in Argentinien entwickelt hat. Unumstritten ist, dass Buenos Aires die Hauptstadt der Psychoanalyse ist. Keine andere Stadt beherbergt so viele Analytiker wie die argentinische Metropole. Es existiert dort scheinbar ein lebensnotwendiges Bedürfnis für das tiefenpsychologische Gespräch, die Analyse und der Drang nach Heilung.

Die Geschichten von Alcoba, Figueras und Ramos sind das Ergebnis des Umgangs mit Schuld und Erinnerung. So war die Entscheidung aller drei Autoren die autobiographischen Ereignisse aus der Kinderperspektive zu erzählen, vielleicht auch die logische Konsequenz. Die Erinnerung bestand aus Fragmenten. Durch die schriftstellerische Beschäftigung mit der Vergangenheit, haben Alcoba, Figueras und Ramos Bruchstücke wiedergefunden, konnten der Sprachlosigkeit der Opfer Worte geben. Am Ende wird es ein Mosaik mit fehlenden Steinen bleiben, aber die literarische Verarbeitung der eigenen Biografie, das Erzählen, um zu Überleben, ist immer auch ein Prozess des Verstehens und ein Befreiungsschlag.


Karola Kallweit ist Absolventin der Evangelischen Journalistenschule und arbeitet als freie Autorin in Berlin und Frankfurt am Main.