Hartz IV und die Urknallmaschine: Geld ist für beides da

Hartz IV und die Urknallmaschine: Geld ist für beides da
Deutschland verbrennt Unsummen von Geld für die Nachahmung des Urknalls, während manch einer sich nicht einmal eine Kinokarte leisten kann? Das stimmt nicht, meinen Mitarbeiter des teuersten Forschungsinstruments der Welt. evangelisch.de hat sich auf dem größten interdisziplinären Forscherkongress Europas umgehört. Das Fazit: Das Geld ist gut angelegt.
09.07.2010
Von Franziska Badenschier

Die Urknall-Maschine am Kernforschungszentrum CERN ist die Superlative schlechthin: Der "Large Hadron Collider" (LHC) ist der leistungsfähigste Teilchenbeschleuniger der Welt, die schnellste Protonenrennbahn auf der Erde, der leerste Raum im Sonnensystem. Auch die Baukosten haben das Prädikat "Superlativ" verdient: Mit rund drei Milliarden Euro ist der LHC das teuerste Instrument der Welt. Deutschland hat ein Fünftel der Summe beigetragen und zusätzlich 60 Millionen Euro für Detektor-Bauteile beigesteuert.

Doch lohnt es sich, Millionen und Milliarden zu investieren, um Quark-Gluon-Plasma zu analysieren, Higgs-Teilchen zu suchen, Top-Quarks zu vermessen und die Verletzung der Teilchen-Antiteilchen-Symmetrie zu erforschen? Alleinerziehende Mütter in Deutschland dürften sich eher fragen, wovon sie die nächste Mahlzeit ihrer Kinder bezahlen sollen, statt zu grübeln, ob im LHC ein schwarzes Loch entstehen kann und es die Erde verschlingen wird.

"Ohne Grundlagenforschung stirbt Deutschland intellektuell aus"

Die Investitionen lohnen sich auf jeden Fall! Das meinten mehrere CERN-Wissenschaftler auf dem EuroScience Open Forum (ESOF), der größten interdisziplinären Konferenz Europas, die im Juli in Turin stattfand.

Eine philosophisches und ein kapitalistisches Argument lieferte zum Beispiel Mark Lancaster in seinem Vortrag über den gesellschaftlichen Nutzen von Teilchenphysik. Der Physiker vom University College London zitierte Georg Christoph Lichtenberg, den ersten deutschen Professor für Experimentalphysik, der 1782 notierte: "Ein untrügliches Mittel gegen das Zahnweh zu erfinden, wodurch es in einem Augenblick gehoben würde, möchte wohl so viel wert sein und mehr, als noch einen Planeten zu entdecken. Aber ich weiß nicht, wie ich das Tagebuch dieses Jahres mit einem wichtigeren Thema beginnen soll als der Nachricht von dem neuen Planeten." Neugier und Tüftelei hätten schon so oft Erfindungen und Entwicklungen hervorgebracht: Da dürfe man bei der Anschubfinanzierung nicht knausern.

Das CERN lohnt sich auch wirtschaftlich

Zumal: "Jeder Euro, den das CERN in die Industrie investiert, bringt drei Euro zurück", sagte Lancaster. Dieser "Economic Return" bedeutet für Deutschland zum Beispiel konkret: Von den 1.200 supraleitenden Dipolmagneten, die die Teilchen in der Urknall-Anlage LHC in der Spur halten, wurde rund ein Drittel in Deutschland gebaut. Der Beitrag, den Deutschland zum CERN-Budget beisteuert, fließt also wieder in die deutsche Industrie zurück.

Gerade in Krisenzeiten sollte man deswegen die Investitionen in die Grundlagenforschung nicht kürzen, sagte Felicitas Pauss, die die Außenbeziehungen des CERN koordiniert und beim EuroScience Open Forum eine der Grundsatzreden hielt. Die österreichische Teilchenphysikerin sagte auch: "Man braucht die Grundlagenforschung genauso wie die Kunst, beides gehört für mich zur Kultur. Wenn man das alles nicht mehr subventioniert, stirbt ein Land langfristig intellektuell aus. Und das kann sich ein Land in Europa, speziell Deutschland, nicht leisten." Pauss ist auch eine Verfechterin der "curiosity driven research", der Forschung aus reiner Neugierde: "Das ist die Basis für die Zukunft und den Wohlstand der Gesellschaft." Außerdem würde die angewandte Forschung ohne Grundlagenforschung schnell an ihre Grenzen stoßen.

Teilchenphysik als Tumor-Therapie: Eine Vision wird Wirklichkeit

Die Forschung hat aber auch konkrete Folgen. Ohne Entwicklungen aus der Teilchenphysik etwa wären heute einige medizinische Untersuchungen und Therapien nicht möglich: Komponenten von Teilchendetektoren ermöglichen die Magnetresonanz- und Computer-Tomographie. Mittlerweile werden beschleunigte Teilchen auch zur Krebstherapie genutzt, etwa in dem neuen Heidelberger Ionenstrahl-Therapiezentrum (HIT), wo jährlich bis zu 1.300 Tumorpatienten mit Protonen und schweren Ionen bestrahlt werden sollen. "Bei Schädelbasis-Tumoren sind die Heilungschancen gegenüber der konventionellen Strahlentherapie schon nachweislich viel besser: Die Fünf-Jahres-Überlebensrate ist von 30 auf 80 Prozent gestiegen", erzählte Andreas Peters vom HIT beim EuroScience Open Forum in Turin.

Das hat natürlich seinen Preis: Während bei einem Kopftumor eine normale Strahlentherapie 4.000 bis 5.000 Euro kostet, kostet die Komplettbehandlung am HIT etwas mehr als 20.000 Euro. "Die neuartige Therapie ist ein teures Verfahren, da machen wir uns nichts vor. Aber wie teuer ist uns ein Menschenleben?", fragt der Physiker.

Zumal: Deutschlands Bundesministerium für Bildung und Forschung trägt so viel zum CERN-Budget bei wie kein anderes Land, nämlich rund 20 Prozent und somit etwa 130 bis 150 Millionen Euro pro Jahr. Doch das sind Peanuts im Vergleich zu den Ausgaben, die dieses Jahr für Hartz IV fällig werden: 44,6 Milliarden Euro.


Franziska Badenschier ist freie Wissenschaftsjournalistin und lebt in Dortmund.