Last Exit Sossenheim: Kickboxen gegen den Alltagsfrust

Last Exit Sossenheim: Kickboxen gegen den Alltagsfrust
Es vergeht kaum eine Woche ohne neue Studie oder Forschungsergebnisse, die das Leben in Deutschland von Menschen mit Migrationshintergrund betreffen. Das Jugendzentrum Kosmos im Frankfurter Problem-Stadtteil Sossenheim kämpft mit Kickboxen und Zeit gegen die Stigmatisierung an.
09.07.2010
Von Karola Kallweit

Sie sollen nicht an den Schmerz denken, egal wie lange er dauert. Ob zwei Sekunden oder acht Stunden. Nach vorne schauen und aushalten. Joan durchquert den Kellerraum, vorbei an den Schwitzenden und Keuchenden. Ein zäher und süßlich-scharfer Geruchsbrei macht das Atmen hier unten fast unmöglich. Als würde man seine Nase in Meerrettich stecken. Jetzt kommt die Lieblingsübung des Antreibers. Ein Grinsen huscht über sein Gesicht.

Es ist Freitagabend und im Frankfurter Jugendclub Kosmos ist das Kickboxtraining der Apaches. Zehn Jungs und Mädchen machen unter der Aufsicht von Trainer Joan Aufwärmübungen in einem Kellerraum mit künstlichem Licht und ohne Klimaanlage. Situps, Liegestütze und etwas, das aussieht wie watschelnde Enten. Dann kreisen sie ihre weit von sich gestreckten Arme. Der Radius wird immer kleiner, solange bis es kaum noch Kreise sind. Der Schweiß läuft in Rinnsälen die Gesichter hinunter. Heino, der blonde oder rote Haare hätte, würde er sie sich nicht abrasieren, beißt vor Anstrengung in sein weißes T-Shirt.

Joan fordert Konzentration und Willenstärke von ihnen. Bloß nicht aufgeben. Er steht vor der Spiegelwand, hat alle im Blick. "L.A. Cocaine Business" und "Tony Montana Scarface" sind in Großbuchstaben auf seinem T-Shirt zu lesen (Bild links). Gelegentlich schreitet er durch die Reihen der Jugendlichen, redet mit ruhiger Stimme auf einen der Sportler ein, geht prüfenden Blicks weiter, verbessert hier und da. Die Körperspannung bei Heino oder die Haltung bei Marlies, Joans Halbschwester, die mit neun Jahren die jüngste beim Training ist.

Das Kosmos: Ein Ersatz-Zuhause für die Jugendlichen

Das Kosmos ist ein Selbstläufer, seit 15 Jahren. Streetdance und Kickboxen für Jugendliche. Dazu wird im Kosmos gekocht, es gibt Hilfe bei den Hausaufgaben und eine Schulter zum Anlehnen. Nur Rauchen, Trinken und Fluchen sind verboten. Joan ist seit zehn Jahren mehr im Kosmos als zu Hause. Wenn der 22-jährige mit den anderen Aufwärmübungen macht, dann ist er ganz bei sich. Joan hat seine eigenen Regeln verinnerlicht. "Ich bin schnell erwachsen geworden. Reif geworden. Ich weiß was gut und böse ist", sagt er.

Als Kind kam Joan mit der Mutter und dem Zwillingsbruder nach Deutschland. Sie war Kolumbianerin, der Vater ein Philippino. Deutsch konnte Joan damals nicht, als er in Frankfurt eingeschult wurde. Verstanden hat er trotzdem schnell: Wer hier etwas werden will, muss deutsch können. Aber um etwas zu werden, lebte er im falschen Bezirk, hatte das falsche Aussehen. Schnell sei er dann auch im falschen Freundeskreis gewesen. Seine Gang von damals: alles Dealer oder Knastis. Doch Joan schaffte den Absprung. Das Kosmos wurde zu seinem Kosmos. Bekannte hätten ihm davon erzählt. Ein Ort, um sich selbst zu verwirklichen. Ein geschützter Raum. Ein Zuhause.

Das Kosmos liegt am Rand des Frankfurter Problem-Stadtteils Sossenheim. Die Jugendlichen kommen mittlerweile aus allen Ecken Frankfurts. Und das, obwohl keine S- oder U-Bahn nach Sossenheim fährt. Nur der Bummelzug in Richtung Taunus. Es ist ein Ort offen für alle. Egal woher man kommt oder an was man glaubt. Egal ob Mann oder Frau. Auf Vorurteile reagiere man hier empfindlich, sagt Nurey Özer: "Hier begrüßt jeder jeden, das ist eine Regel."

Sozialarbeiterin Nurey (Bild links) ist beliebt bei den Jugendlichen. Vielleicht, weil sie mit ihren Tattoos nicht ins Klischeebild einer türkischen Frau passt oder vielleicht auch deshalb, weil sie den Kids das Gefühl gibt, dass es für sie nicht nur ein Job ist. Auf ihrem Dekolleté ist in Schönschrift zu lesen: "Einzeln sind wir Wörter, zusammen ein Gedicht."

"Die Computertypen, das ist die Elite in Deutschland"

Nurey sitzt am Schreibtisch ihres Büros und schaut sich auf Facebook ein Video des deutschen Comedians Hagen Rether an: Wie Deutsche die Türken und sich selbst sehen. "Ich kenne das. Als Kind musste ich immer besser sein als Andere, mich öfter beweisen, und ja, ich habe Goethe bereits gelesen." Die gebürtige Bielefelderin kam vor sechs Jahren nach Frankfurt, wegen der Liebe und um hier Soziale Arbeit zu studieren. Es kommt auf den Blickwinkel an, sagt sie. Es sei eben nie ein krimineller Jugendlicher, sondern immer ein krimineller türkischer Jugendlicher. Sie habe Glück gehabt. Als junges Mädchen sei sie von einer Nachbarin unterstützt worden. Kleinigkeiten, mal ein Buch oder so. Aber das Wichtigste: Frau Maas hatte Zeit. Zeit für Gespräche auf deutsch, denn zu Hause mit ihren Eltern hat sie türkisch gesprochen. "Jeder braucht eine Frau Maas im Leben", davon ist die 27 jährige überzeugt.

Joan hat es geschafft. Ohne das Kosmos, glaubt er, wäre nichts aus ihm geworden. Er gewinnt heute Titel im Kickboxen, leitet das Training und macht eine Ausbildung zum Speditionskaufmann am Flughafen. Aber es gab auch Rückschläge. In der Realschule hat er zu den Besten in seiner Klasse gehört, deshalb wollte er eigentlich aufs Gymnasium. "Ich bin kein dummer Junge, aber die hatten ein anderes Tempo", sagt Joan. Ihm sei dann ein Licht aufgegangen. Die ganzen Computertypen in seiner Klasse, die dünnen Jungs mit den Brillen, das sei die Elite in Deutschland. "Im Leben schenkt Dir keiner was, das ist beim Kickboxen auch so. Dein Gegner will Dich ausknocken."

Es gehe aber nicht um Gewalt, sondern um Disziplin. "Wir müssen Vorbilder für die Jüngeren sein", sagt Joan. Ein Satz wie in Stein gemeißelt und jeder im Kosmos hat ihn im Repertoire. Die Jugendlichen hier wissen, dass sie Problemfälle sind, kennen den Jargon der Medien, der Forscher und der Politiker: Sozialer Brennpunkt, Migrationshintergrund, Integration. Worthülsen, die mit ihren Leben gefüllt werden. Hier ist man sich der eigenen, ausgesprochen konfliktreichen Existenz vorbildlich bewusst. Und die Insignien ihres Lebensstils spiegeln das: Ghetto und Hip Hop. In Sossenheim kann man sich so noch immer abgrenzen. Von denen, die ausgrenzen.

Dampf ablassen über den täglichen Frust

Sossenheim ist ein Stück vergessenes Frankfurt. Es gibt einen alten Dorfkern und es gibt den Teil von Sossenheim, wo man in den 1970ern die Wohnsilos für die Problemfälle hingestellt hat. Alt- und Neubürger haben bis heute nicht viel miteinander zu tun. Hinter den vergilbten Wänden der Sozialbauten vermutet der Betrachter viel menschliche Armut, in aller Öffentlichkeit zeigt sie sich dann auch. Gleich um die Ecke vom Kosmos sitzen die Trinker auf Betonkübeln, die nicht einmal vor 20 Jahren die schöne Außenarchitektur dieser Wohnanlage waren. Ein kleines, alkoholisiertes Grüppchen, Männer und Frauen mit Bierflaschen einer Billigsorte in der Hand. Ein paar Kilometer weiter mit dem Bummelzug ist man dann in Bad Soden, einer der reichsten Gemeinden im Rhein-Main-Gebiet. Hier wohnen Bänker, Professoren und Juristen in schönen Einfamilienhäusern. Arm und reich liegen in Frankfurt nah beieinander. "Aber besser ein Zufluchtsort als kein Zufluchtsort", sagt Joan.

Integrieren bedeute, die Menschen in der Gesellschaft aufzunehmen, aber aufgenommen werden immer noch mehr Alkoholiker im Sozialbau, sagt Ali Reza Yilmaz. Ali ist der Dienstälteste im Kosmos. Seit 1994 arbeitet er hier. Er bewegt sich gelassen und fast ein wenig tänzelnd zwischen den Pokalen und den Fotowänden, die von gemeinsamen Urlauben der Jugendlichen in der Türkei oder Miami erzählen. Mit dem Körper eines Türstehers und der etwas schiefen Boxernase wirkt Ali wie der Prototyp des verdächtigen Ausländers. Das Kickboxen sei eine Möglichkeit für die Jugendlichen ihre Aggressionen zu kanalisieren, Dampf abzulassen über den täglichen Frust, sagt Ali.

Trotzdem müssten sie sich immer wieder gegen Vorurteile zur Wehr setzen. berichtet Ali. Obgleich das Fernsehen schon dort war und die Sossenheimer Sportler aus dem Kosmos unlängst eine Kickboxgala in Frankfurt veranstalten haben. Mit Streetdance (Bild oben: Proben im Hof) und dem berühmten Rapper Azad. Immer wieder müssen die Jugendlichen gegen ihren schlechten Ruf kämpfen, müssen erklären, dass sie erhobenen Hauptes durchs Leben gehen möchten, weil Türen oft genug verschlossen bleiben, in Schule oder Disco, und dass das Leben ein langer Kampf sein kann, wenn man schwarze Haare hat und Murat, Ali oder Goran heißt.

Für sie ist es am Ende ein kleines Stück Sicherheit, zu wissen, dass man nicht derjenige ist, der am Ende auf dem Boden liegen wird. Ob nun in einem einschlägigen Stadtviertel oder im Leben.


Karola Kallweit ist Absolventin der Evangelischen Journalistenschule Berlin und Autorin in Frankfurt und Berlin.