Schwarz, rot, gold und arm: Die Wundertüte Berlin

Schwarz, rot, gold und arm: Die Wundertüte Berlin
Die EU hat das Jahr 2010 zum Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung erklärt. 14 Prozent der Bevölkerung - 11,5 Millionen Menschen in Deutschland - sind von Armut bedroht. In der "Fokuswoche gegen Armut" vom 19. bis 25. Juni rückte die Diakonie die Armutsbekämpfung stärker ins öffentliche Bewusstsein, unter anderem mit Besuchen an Stellen, wo man Armut auf den ersten Blick nicht vermutet. So wie in Berlin.
25.06.2010
Von Sebastian Sahm

Links sehen sie den Reichstag, rechts das Bundeskanzleramt und da vorne den neuen Hauptbahnhof, die Autos um unseren Bus sind in Schwarz, Rot, Gold geschmückt. Mesut Özil hat Deutschland ins Achtelfinale geschossen. Aber wir sind nicht unterwegs zur Fanmeile. Unsere Fahrt geht in Gebiete in Berlin, die in Reiseführern nicht zu finden sind. Die Bustour findet im Rahmen der Europäischen Fokuswoche gegen Armut und soziale Ausgrenzung statt und führt zu sozialen Projekten, die von Armut betroffenen Menschen helfen. Berlin ist dafür leider immer noch das beste Beispiel. Hier leben prozentual die meisten Hartz IV-Empfänger gemessen an der Gesamtbevölkerung.

Unser Bus fährt zu zwei Projekten nach Moabit und Frohnau. Stadtteile, die in der Öffentlichkeit nicht als soziale Brennpunkte gelten. Angekommen in Moabit, einem Stadtteil von Mitte, begrüßt uns die Leiterin der Kontakt- und Beratungsstelle BACIM, Sigrid Bachmann, herzlich. BACIM ist türkisch und heißt auf Deutsch "Schwester" und ist eine Kontakt- und Beratungsstelle für Frauen aus der Türkei in Trägerschaft des Roten Kreuzes. Bachmann und ihr Team laden uns erst einmal auf einen Kaffee ein, um uns ihr Konzept und ihre Beratungsstelle in aller Ruhe zu erklären. Die Beratungsstelle gibt es schon seit 27 Jahren. Sie ist eine Institution im Kiez und richtet sich vorwiegend an Frauen türkischer Herkunft. Die Frauen entstammen zum größten Teil der ersten Einwanderergeneration und sind zu 80 bis 90 Prozent auf soziale Leistungen angewiesen.

Allein, isoliert und krank: Ältere Migrantinnen brauchen Hilfe

Das Armutsrisiko ist bei älteren Migrantinnen weitaus höher als in der Gesamtbevölkerung. Es liegt bei 27,1 Prozent im Vergleich zu 9,7 Prozent der Gesamtbevölkerung, erklärt Bachmann. Als Gründe dafür nennt sie, dass das erzielte Einkommen von Migrantinnen deutlich geringer war, da berufliche Qualifikationen fehlten, Probleme bei der Anerkennung der Berufsabschlüsse hinzukamen und Sprachbarrieren existierten.

Ein Schwerpunkt des Beratungsangebotes ist daher auch die Beratung zu sozialrechtlichen und behördlichen Fragen. Sozialrechtliche Ansprüche müssen durchgesetzt und Migrantinnen bei der Antragsstellung beraten werden. Aber auch die psychosoziale Beratung und Betreuung bei persönlichen und familiären Konflikten bildet einen großen Anteil der Arbeit.

Viele Frauen bei BACIM fühlen sich allein, isoliert oder leiden unter altersbedingten Krankheiten. Ganz wichtig ist für Bachmann das persönliche Gespräch. Nur darüber lasse sich der andere verstehen, erläutert sie ihr Verständnis von Integration. Daher bietet BACIM auch umfangreiche Gruppen- und Kursangebote. Darunter fallen gesundheitsfördernde Kurse wie Atem- und Entspannungsübungen oder Schwimmen und Wassergymnastik. Die anderen Teilnehmer unserer Tour fragen nach den Erfahrungen von BACIM bei der Integration.

Kinderarmut inmitten von Parks und Villen

Bachmann verdeutlicht, dass viel zu wenig die Lebensumstände und Sichtweisen der Migrantinnen berücksichtigt werden. Jahrelang war dies kein Thema und Deutschland als Einwanderungsland zu bezeichnen galt als Tabubruch. Ich denke an Mesut Özils Tor, an Caucau, an die schwarz rot goldenen Autos: Es hat sich einiges verändert in Deutschland. Die für BACIM vorgesehene Stunde ist schon vorbei, der Bus wartet schon auf die Weiterfahrt nach Frohnau. Aber das verzögert sich. Wir stehen im Stau, Baustellen und wieder das Meer an Schwarz, Rot, Gold.

Schließlich biegen wir nach Frohnau ein. Hier soll es Kinderarmut geben. In einer der reichsten Gegenden Berlins, zwischen großzügigen Altbauvierteln, herrschaftlichen Straßen und wundervollen Parks. Der Rektor der Friedrich-Bergius-Oberschule, Michael Rudolph, begrüßt uns und schildert die Situation an seiner Schule. 50 Prozent der Kinder sind hier "lehrmittelbefreit", die Eltern beziehen in irgendeiner Form Sozialleistungen.

Die Schule ist verkehrstechnisch so gelegen, dass auch viele Kinder aus anderen sozial schwierigeren Bezirken sie besuchen. Vielen Kindern fehlt es an den täglichen Schulsachen wie Taschenrechnern, Schulranzen oder Sportzeug. Hier setzt das Projekt "Wundertüte" der Arbeiterwohlfahrt an, das uns Michael Radeloff von der Arbeiterwohlfahrt näher erklärt. Vor drei Jahren begann man benachteiligten Kindern in Form von Sachspenden zu helfen, erklärt Radeloff. Dabei wird in Absprache mit den Lehrerinnen und Lehrern entschieden, welches Kind individuelle Hilfe benötigt.

Unbürokratische Hilfe für die Kleinigkeiten im Leben

Dabei ist es für Radeloff wichtig, dass diese Hilfe unbürokratisch erfolgt. So gibt es keine Bedarfsprüfung, entscheidend ist das Votum des Lehrers oder der Lehrerin. Die "Wundertüte" will praktisch und geräuschlos helfen, damit Kinder in ihrer schulischen Ausbildung nicht benachteiligt werden. Radeloff erzählt von einem Mädchen, das mit Plastikbeutel zu Schule kam, von Schülern, die keine Sportsachen haben, von fehlenden Tuschkästen. Eigentlich alltägliche Dinge, aber für viele eben nicht mehr.

Schnell wird klar, dass die "Wundertüte" ein Projekt ist, das konkret vor Ort ohne viele Anträge und Überprüfungen hilft, mit den Schulen erfolgreich kooperiert und ein klares Konzept hat. Dies dürfte auch dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, aufgefallen sein, der inzwischen die Schirmherrschaft für das Projekt übernommen hat.

Wir verlassen die Schule, vor dem Eingang spielen Kinder in der Sonne Fußball, wir fahren zurück nach Mitte. Da, wo das politische Berlin regiert - und wo es auch die Armut gibt, die keiner erwartet und nur wenige sehen.


Sebastian Sahm ist freier Journalist in Berlin. Er arbeitet und schreibt für die Diakonie.