Der Speisewagen: Mal unterschätzt, mal überschätzt

Der Speisewagen: Mal unterschätzt, mal überschätzt
Wer nutzt eigentlich so einen Speisewagen? Eines ist jedenfalls sicher: Man kann dort viele tolle Geschichten erleben, wie unsere Autorin erfahren und erlesen hat.
25.06.2010
Von Ursula Ott

Meine Woche vom 20. Juni bis 25. Juni

Sonntag

Der Speisewagen, schreibt der Berliner Autor Torsten Körner, sei ein unterschätzter Ort. Und schildert gleich im Vorwort zu seinem Buch "Geschichten aus dem Speisewagen" eine erotische Szene. Aus einem überfüllten ICE nach Berlin, in dem er im Gedränge einer anderen Frau näher kommt. "Unsere Beine flossen immer mehr ineinander und das stetige Vibrieren des Zuges tat ein Übriges." Das ist mir noch nie passiert! Mal sehn, ich fahre heute mittag von Köln nach Saarbrücken zu einer Podiumsdiskussion, Umsteigen in Mannheim. Ab Mannheim ist der Zug ein Halbfranzose: in Kooperation mit der SNCF fährt er nach Paris. Na, wenn das keine gute Voraussetzung ist, um im Speisewagen französisch zu essen und oh là là Paris stetig zu vibrieren. Leider merke ich erst nach einer halben Stunde im Speisewagen, dass dieser eine Art Potemkinsches Dorf ist - hier wird gar nicht bedient. Der Franzose an sich bleibt schön faul auf seinem Platz im Großraumwagen sitzen und wartet, bis ein schicker marokkanischer Steward kommt und Lachsnudeln und Chardonnay serviert. Im Speisewagen aber tut sich gar nichts. Sowas kann auch nur mir passieren, ich verstehe das Prinzip leider erst kurz hinter Kaiserslautern. Ich glaube, der Speisewagen ist ein überschätzter Ort.

Montag

Keine Frage, es ist eine Frage der Haltung, ob man im Speisewagen was erlebt oder nicht. Körner hat sich extra für dieses Buch ein Jahr lang auf den Weg gemacht und Leute angequatscht. Oder zumindest dieses Gesicht aufgesetzt: Hallo, bin auf Empfang. Dann lernt man nicht nur schöne Frauen kennen. Sondern jenes Paar, das als Laienschauspieler "Frau Berlin und Herr Brandenburg" mimt, die geplante Fusion zweier Bundesländer. Eine von unzähligen skurrilen Lebensgeschichten, die Zugreisende dem Autor erzählen.
Die würde man ja sonst nie treffen.

Dienstag

Sobald eine Komplikation im ICE auftaucht, sagt der Steward (die Vokabel Steward habe ich in Körners Buch zum ersten Mal gelesen): "Ich habe die Vorschriften nicht gemacht." Körner schildert, wie eine Frau mit Hund in den Speisewagen kommt. Das ist verboten, aus hygienischen Gründen. Aber alle Mitreisenden fänden es nett, wenn der Hund bliebe. Was sagt der Steward? "Ich habe die Vorschriften nicht gemacht". Ich persönlich mag zwar keine Hunde und wundere mich gerade jetzt zur Urlaubszeit, was die Koffer-und-Taschen-Industrie für aufwändige Hundetransportsysteme erfunden hat. Einige gleichen einer mobilen Zweizimmerwohnung fürs Tier. Aber ich amüsiere mich trotzdem über die Szene im Buch - warum kann es nicht pragmatische Lösungen geben, wo Menschen auf engem Raum zusammen sind? Wenn alle den Hund mögen, dann lasst ihn doch da sitzen!

Mittwoch

Auch ein schönes Thema. Paare im Zug. "Dass sie sich nichts zu sagen hatten, war unüberhörbar."

Donnerstag

Die Raucherzone, schreibt Körner, sieht aus wie die Coaching Zone in der Fußball-Bundesliga. Und da sie am Bahngleis meist auf Höhe der 1. Klasse eingezeichnet ist, stehen hier Yuppies mit zerlumpten Gestalten Rücken an Rücken und saugen einträchtig an ihren Zigaretten. Wo gibt es das sonst noch im Leben? Doch, mir fällt noch ein Ort ein. Ich war letzten Sonntag in der Kirche, und weil drei Kinder getauft wurden, saßen sehr schön gekleidete Menschen in den Bänken, Patenonkels im Sonntagstaat. Mitten im Gottesdienst kam einer der Stadtneurotiker aus unserem Viertel, mit einer Plastiktüte voller leerer Flaschen, und setzte sich in die Bank neben die Taufpaten. Sie haben es ertragen, er ging auch wieder nach fünf Minuten. Ab und zu treffen sie sich doch noch, die Schichten. Am Bahnhof und in der Kirche. Schließlich hat Joseph Beuys die Bahnhöfe ja auch moderne Kathedralen genannt.

Freitag

Ich habe jetzt eine Woche lang "Geschichten aus dem Speisewagen" (erscheint diese Woche im Fischerverlag) zwischen Köln und Frankfurt gelesen. Eigentlich ist das Buch zu dick, um es neben Laptop und Akten noch in die Tasche zu stecken. Aber es erntet viele neugierige Blicke der Mitreisenden.
Und da ich offenbar nicht so der Speisewagen-Typ bin - vielleicht quatscht mich ja mal einer wegen dem Buch mit diesem auffälligen Titel an. Schönes Wochenende!

 


Über die Autorin:

Ursula Ott, 45, ist stellvertretende Chefredakteurin von chrismon, Chefredakteurin von evangelisch.de, Mutter von zwei Kindern und pendelt täglich zwischen Köln und Frankfurt. www.ursulaott.de.

Neu im Buchhandel: Ursula Ott: "JA TOLL - Geschichten, die immer nur mir passieren", erhältlich im chrismon-shop!

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