Die Krise auf französisch: Der "wütende Knirps" Deutschland

Die Krise auf französisch: Der "wütende Knirps" Deutschland
Frankreich, Deutschland und Europa: Die Krise sieht von außen immer anders aus. Der Blick aus dem Nachbarland mit dem Eiffelturm zeigt: Deutschland wird als Führungsmacht wahrgenommen, aber nicht unbedingt als eine, die in der Krise umsichtig und gut geführt hat.
25.05.2010
Von Martina Zimmermann

Angesichts der Krise sind die deutsche Kanzlerin und der französische Präsident selten einer Meinung, aber sie behaupten nach zähen Verhandlungen Seite an Seite das Gegenteil. "Deutschland hat den Schlüssel", schrieb der sozialistische Ex-Minister Jean-Pierre Chevènement am 14. April in der Pariser Tageszeitung "Libération" und prophezeite eine wirtschaftliche und soziale Katastrophe, falls Deutschland nicht den Konsum im Land ankurbele statt sich um die Wettbewerbsfähigkeit auf dem internationalen Markt zu sorgen.

Solidarisch angesichts des griechischen Bankrotts

Deutschland "darf Europa nicht den Rücken zuwenden unter dem Vorwand der Wettbewerbsfähigkeit", schimpfte Chevènement. Einen Monat später verglich die Journalistin Muriel Gremillet auf RTL (am 18. Mai) den Euro mit dem Fußball: ein Spiel mit 16 Teilnehmern (statt 22 wie beim Fußball), bei dem am Schluss immer die Deutschen gewinnen.

Angesichts des griechischen Bankrotts zeigten sich die Franzosen solidarisch, zumal es die Deutschen sind, die am meisten zahlen. Hinter dem parteiübergreifenden französischen Konsens steckt aber auch das Engagement französischer Banken und Versicherungen für 76 Milliarden Dollar Griechenlandschulden, rund eineinhalbmal so viel wie deutsche Institute. Die Deutschen hätten jahrelang den Gürtel enger geschnallt und arbeiten bis ins hohe Alter von 67, versuchten immerhin gut meinende französische Medien das ewige Zögern der deutschen Kanzlerin zu erklären. Aber die Rechnung, die die französische Presse aufmacht, ist gesalzen: Statt 20 Milliarden Mitte Februar auf dem griechischen Tisch koste die Krise jetzt einen 500-Milliarden-Rettungsschirm.

"Die Obsession eines einzigen Mitgliedes"

Andere Meinungsmacher verbreiten gar die These, das Problem mit dem Euro sei... Deutschland! "Lasst uns Deutschland rausschmeißen, nicht Griechenland!" forderte der Wirtschaftswissenschaftler Frédéric Lordon Ende März, als in Berlin laut über einen Ausschluss der griechischen Republik nachgedacht wurde. "Dass das deutsche Unterbewusstsein mit einem roten Eisen von der Inflation geprägt ist, die Spuren hinterlässt in der Wirtschaftspolitik in Form einer fixen, antiinflationistischen Idee", sei völlig verständlich. "Die Frage ist, ob die anderen Mitglieder der Union unter den Obsessionen eines einzigen Mitglieds leben wollen." Laut Lordon lebt die EU unter der Fuchtel der Macken Deutschlands aus dem einzigen Grund: Weil die Deutschen sonst nicht mitmachen würden.

Das deutsche Modell einer sozialen Marktwirtschaft und die Ideologie einer starken Währung ist für Franzosen "liberal", fast ein Schimpfwort im Land des Colbertismus.

Die dirigistische und protektionistische Finanz- und Wirtschaftspolitik im 17. Jahrhundert wurde vom damaligen Königshoffinanzminister Jean-Baptiste Colbert geprägt. Ziel der Politik war eine Steigerung der wirtschaftlichen Einnahmen, umgesetzt wurde es durch strenge Kontrollen und die Maßnahmen Colberts. Unter anderem begrenzte der Staat Importe und förderte Exporte durch Verordnungen, regelte die Güterproduktion, zentralisierte Politik und Wirtschaft. Banken und Börsen hatten weitgehend freie Hand, durften aber ausschließlich im Inland agieren. Ausländische Kontakte waren strikt verboten.

Sarkozy und Merkel: Der Macher und die Bremserin

Beim Aushandeln des milliardenschweren Rettungspakets setzte Nicolas Sarkozy endlich seine Vorstellungen von einer europäischen Wirtschaftsregierung durch. De facto haben aber Deutschland wie Frankreich größtes Interesse an einem gemeinsamen Vorgehen. Nicolas Sarkozy will daher nun auch die Reduzierung des Defizits in die Verfassung aufnehmen, nachdem Angela Merkel in der Pariser Tageszeitung "Le Monde" wie vor dem Bundestag auf Solidität und Stabilisierung der Staatshaushalte pochte. Trotz dieses Eingeständnisses prophezeit allerdings die Wirtschaftszeitung "La Tribune", dass Berlin und Paris den "Garten der Missverständnisse" noch nicht verlassen haben.

Probe aufs Exempel: Das Bundesfinanzministerium verbot im Alleingang Leerverkäufe an den Finanzmärkten, ohne die Euro-Partner auch nur zu informieren. Deutschland spiele mit dem Euro "wie ein wütender Knirps mit seiner Märtyrerpuppe", kommentierte daraufhin Pierre Briançon auf der Webseite von Le Monde. Der französische EU-Kommissar Michel Barnier solle seine Vorschläge wie geplant im Oktober vorlegen: "Kein Grund zur Eile, weil Angela Merkel auf den Finanzmärkten Terminator spielt!"

Sparpolitik nach deutschem Vorbild

Dennoch ist die französische Regierung über Wolfgang Schäubles strikte Sparmassnahmen insgeheim gar nicht unglücklich. Denn auf dem nationalen Terminkalender steht die Reform von Renten und Sozialversicherungssystem. Damit das Volk im Land der 35-Stunden-Woche, eines Rentenalters von 60 und einer hohen Senioren- und Jugendarbeitslosigkeit die bitteren Pillen schluckt, droht Premierminister Fillon, ohne Reformen könne es Frankreich bald wie den Griechen gehen.

Denn dem französischen Staat steht das Wasser bis zum Hals, die Neuverschuldung beträgt acht Prozent des Bruttosozialproduktes, die Gesamtverschuldung 85 Prozent des Sozialproduktes. Die anstehende Sparpolitik will die Regierung nicht beim Namen nennen, aber sie kann sie zumindest auf Deutschland und auf Europa schieben, nach dem bewährten Muster: Kommt Gutes aus Brüssel, ist es der jeweiligen französischen Regierung zu verdanken, kommt Schlechtes, ist die EU schuld.


Martina Zimmermann ist Korrespondentin in Paris.