Afghanistan: Ein Krieg, der nicht Krieg heißen soll?

Afghanistan: Ein Krieg, der nicht Krieg heißen soll?
Warum streiten sich Politikerinnen und Politiker so sehr darum, ob in Afghanistan Krieg herrscht oder nicht? Was zunächst nach sprachlichen Spitzfindigkeiten aussieht, liegt an den juristischen, politischen und nicht zuletzt symbolischen Bedeutungen, die eine entsprechende Bezeichnung des Bundeswehreinsatzes mit sich bringt. Der Friedensforscher Arvid Bell erläutert die rechtlichen Hintergründe des Einsatzes - und sagt, welche Fragen er wirklich wichtig findet.
22.04.2010
Von Arvid Bell

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 griff eine internationale Staatenkoalition unter Führung der USA Ziele in Afghanistan an, um die dortigen Ausbildungslager des Terrornetzwerks El Kaida zu zerschlagen. Die in Afghanistan herrschenden radikal-islamistischen Taliban hatten sich geweigert, den El-Kaida-Führer Osama bin Laden auszuliefern.

Die USA stützten die "Operation Enduring Freedom" (OEF) auf das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der UN-Charta sowie auf die Resolution 1368 des UN-Sicherheitsrates. Diese hatte zwar das Recht der USA auf Selbstverteidigung anerkannt und die Terroranschläge verurteilt, allerdings nicht explizit militärische Zwangsmaßnahmen autorisiert.

In welchem Auftrag agiert die Bundeswehr?

Dieser Hinweis ist wichtig, weil die Bundeswehr heute nicht im Rahmen der Anti-Terror-Mission OEF in Afghanistan operiert, sondern als Teil der "International Security Assistance Force" (ISAF), die mit einem Mandat nach Kapitel VII der UN-Charta versehen ist. Dieses UN-Mandat sieht nicht "Kriegführung gegen die Taliban" oder "Krieg gegen den Terrorismus" vor, sondern eine Unterstützung der afghanischen Regierung beim Durchsetzen von Sicherheit und Autorität im Land, solange die eigenen Sicherheitskräfte hierzu nicht in der Lage sind.

Wer also argumentiert, dass die Bundeswehr nicht Krieg führe, sondern sich an einer "Stabilisierungsmission" beteilige, hat insofern Recht, dass dies die Idee des seit 2001 jährlich vom UN-Sicherheitsrat verlängerten ISAF-Mandates ist.

Seitdem hat der Deutsche Bundestag jährlich für die deutsche Beteiligung an ISAF gestimmt, die seit 2003 von der Nato geführt wird. Allerdings sind Kapitel-VII-Mandate keine Blauhelm-Missionen, sondern der Einsatz von Waffengewalt zur Durchsetzung der Missionsziele ist autorisiert.

Ein "bewaffneter Konflikt"

Während die Vorbereitung eines Angriffskriegs laut Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verfassungswidrig ist (Art. 26. Abs. 1), kann sich der Bund "zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen" (Art. 24, Abs. 2.). Nun war es anfangs so, dass die Bundeswehr sich im Norden Afghanistans nicht "im Krieg" befand, ja noch nicht einmal in "kriegsähnlichen Zuständen", weil die Sicherheitslage dort vergleichsweise ruhig war.

Gleichzeitig standen im Süden und Osten Afghanistans OEF- und ISAF-Truppen im Krieg mit der bewaffneten Opposition, also mit El Kaida, Taliban, ausländischen "Gotteskriegern", Kriminellen, Drogenbanden und anderen Gegnern der afghanischen Regierung. In dieser Phase herrschte also in Teilen Afghanistans Krieg, die Bundeswehr selbst war daran aber nur indirekt beteiligt und führte im Norden kaum Kampfhandlungen durch und es kam nur sporadisch zu Sicherheitsvorfällen.

Dies hat sich aber mittlerweile geändert. Da der Norden Afghanistans als Nachschubroute für die Nato-Truppen wichtiger wird, verlagern die Aufständischen ihre Aktivitäten in den von der Bundeswehr verantworteten Bereich. Spätestens seit dem von einem deutschen Offizier angeforderten Luftangriff auf von Taliban entführte Tanklaster, bei dem im September 2009 etwa 100 Afghaninnen und Afghanen getötet wurden, ist die dramatische Veränderung der Lage nicht mehr zu übersehen. In der Folge klassifizierte die Bundesanwaltschaft die Situation in Afghanistan als einen "nichtinternationalen bewaffneten Konflikt".

Der ungewollte Krieg

Dieser Einordnung liegt die Tatsache zugrunde, dass ja nicht "Deutschland gegen Afghanistan" Krieg führt, sondern dass die Streitkräfte von 42 Ländern auf der Grundlage einer UN-Resolution gemeinsam mit den afghanischen Sicherheitskräften gegen die bewaffnete Opposition innerhalb Afghanistans vorgehen. Ebenso, wie das Grundgesetz den Angriffskrieg ächtet, heißt es in der UN-Charta, dass die "Völker der Vereinten Nationen" fest entschlossen seien, "künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren."

Einerseits wollen und sollen also Grundgesetz und UN-Charta den Krieg verhüten, andererseits ist die Nato – und damit die Bundeswehr – in Afghanistan mittlerweile zur Konfliktpartei in einer bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzung geworden.

Der Begriff bleibt tabu

Wenn man genau hinhört, wird man merken, dass sowohl die Bundeskanzlerin als auch der Verteidigungsminister bisher nicht explizit gesagt haben, dass "Deutschland in Afghanistan Krieg führt" oder dass sich "Deutschland im Krieg" befinde. Stattdessen heißt es stets, man verstehe "jeden Soldaten, der von Krieg spricht" oder "in Teilen Afghanistans" herrsche Krieg oder es gehe um "kriegsähnliche Zustände" oder man könne "umgangssprachlich" von Krieg reden.

Die Politik reagiert hiermit vor allem auf einen Druck seitens der Öffentlichkeit und nicht zuletzt seitens der Soldatinnen und Soldaten: Wer in Afghanistan beschossen wird und Menschen sterben sieht, versteht nicht, dass in Deutschland von einem "Stabilisierungseinsatz" geredet wird und der Eindruck entsteht, es gehe nur um das ungefährliche Bauen von Brücken und Schulen. Ebenso fragen sich viele Bürgerinnen und Bürger, warum immer mehr Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan ihr Leben verlieren, wenn doch angeblich gar kein Krieg herrscht.

Die eigentliche Diskussion

Noch komplizierter wird die Lage dadurch, dass die neue Strategie des ISAF-Oberkommandierenden US-General Stanley McChrystal eine "Counterinsurgency-Strategie" ist und Aufstandsbekämpfung dient. Über diese Klassifizierung wird in Deutschland kaum geredet. Heutige Counterinsurgency-Doktrinen rücken den Schutz der Zivilbevölkerung in den Mittelpunkt, was bedeutet, dass die ISAF-Truppen z. B. im Zweifelsfall auf Luftangriffe verzichten und dafür mit mehr Bodentruppen und gemeinsam mit afghanischen Soldaten gegen feindliche Ziele vorgehen werden.

Statt einer Begriffsdiskussion über "Krieg oder Nichtkrieg" sollten also die politischen Fragen ins Zentrum der Debatte rücken:

  • Wollen wir, dass sich die Bundeswehr an der Aufstandsbekämpfung in Afghanistan beteiligt?
  • Welche Konsequenzen hat die Counterinsurgency für die kriegsgeplagten Afghaninnen und Afghanen?
  • Was heißt das für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr und ihre Angehörigen?
  • Glauben wir, dass die neue Afghanistan-Strategie zu mehr Sicherheit führt, oder heizt sie die Gewaltspirale nur noch weiter an?

Über diese grundsätzlichen Fragen sollte in der deutschen Öffentlichkeit gestritten werden.


Arvid Bell ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.