"Ich sehe sie lieber mit einem Surfbrett als mit einer Waffe"

"Ich sehe sie lieber mit einem Surfbrett als mit einer Waffe"
Noch vor den ersten Sonnenstrahlen kommen sie an den weltberühmten Strand von Rio de Janeiro: Die Kinder aus den umliegenden Armenvierteln, den so genannten Favelas. Doch sie kommen nicht etwa zum Betteln, Klauen oder zum Drogenverkauf an den Touristenstrand. Sie kommen, um Surfen zu lernen. Kostenlos.
21.04.2010
Von Kathi Haid

Jean Carlos, ihr Surflehrer, ist selbst in der Favela Cantagalo aufgewachsen, die unweit vom Traumstrand liegt. "Ich sehe jeden Tag viele Kinder, die in den Drogenhandel hineinrutschen oder selbst anfangen, Drogen zu nehmen und früh ihr Leben lassen. Deshalb hole ich sie zum Surfen. Ich sehe sie lieber mit einem Surfbrett in der Hand als mit einer Waffe auf der Straße", sagt er, während er in der goldenen Morgensonne am Strand von Ipanema seinen weiß-blauen Schirm in den Sand bohrt.

Von der Strandpromenade aus rufen ihm zwei Kinder winkend zu. Es sind Cleison, 10 Jahre alt, und sein kleiner Bruder Rerisson. Auch sie wohnen in der Favela Cantagalo. Sie tragen Badeshorts. Aus ihren Gesichtern strahlt ein breites Grinsen. In einigen Metern Entfernung läuft ihre Mutter mit einem Hund an der Leine. Jeden Montag-, Donnerstag- und Freitagmorgen begleitet sie ihre beiden Jungs zum Surfen an den Strand, denn an diesen Tagen ist der Surf-Unterricht für die Kinder aus den Armenvierteln kostenlos. In der restlichen Zeit bringt Jean Carlos reichen Touristen das Surfen bei, damit verdient er seinen Lebensunterhalt. Umgerechnet 17 Euro kostet eine Stunde bei ihm. An den drei Tagen kümmert sich Jean Carlos momentan um rund zwanzig Favela-Kids, denn auch seine Kapazitäten sind begrenzt. Aber grundsätzlich kann bei ihm jedes arme Kind kostenlos das Wellenreiten lernen. "Bei mir gibt es nur eine Regel: Wer die Schule schwänzt, darf nicht zum Surfunterricht kommen."

Mit Jesus zur Hoffnung auf ein besseres Leben

Für Jean Carlos und seine Schützlinge ist Surfen mehr als nur ein Sport. Er will sie auf den richtigen Weg bringen, sie sollen die Natur und ihre Gesundheit schätzen lernen. Auch seinen Glauben an Gott versucht Jean Carlos ihnen näher zu bringen. "Só Jesus" – "Nur Jesus" steht von Hand geschrieben auf Jeans Carlos Surfbrett. "Als ich selbst jung war, musste ich alles selbst lernen. Ich hab auch Drogen genommen. Vor sechs Jahren bin ich der Kirche beigetreten und hab ich Jesus Christus in mein Herz gelassen. Dank ihm bin ich von allem los gekommen. Jetzt möchte ich den Kindern beibringen, was mir das Leben gezeigt hat."

Der Strand und das Meer von Ipanema sind um diese Uhrzeit früh am Morgen noch menschenleer. Nur einige wenige machen hier und da ihre morgendlichen Dehnübungen im Sand. In der warmen feuchten Luft liegt eine Mischung von salzigem Meerwasser und süßlicher Sonnenmilch. Trotz der frühen Stunde müssen sich alle gut das Gesicht eincremen, denn durch die Spiegelung im Wasser ist die Sonnenstrahlung für alle Hauttypen gefährlich.

Inzwischen sind neben den Brüdern Cleison und Reirisson noch vier weitere Kinder am Strand eingetroffen. Während sie sich Hemdchen aus Lycra-Stoff anziehen, die ihnen Jean Carlos leiht, damit sie im Wasser keinen Sonnenbrand bekommen, erzählt der 12-jährige William, wie er zum Surfen kam: "Ich war mit ein paar Freunden am Strand. Sie hatten gerade Unterricht bei Jean, da haben sie gesagt: Komm mach doch auch mit, Will. Da hab ich Jean gefragt, ob er mir auch Unterricht gibt, und er hat ja gesagt." So einfach kann es sein. Im Sand machen die Kids unter Anleitung ihres Lehrers Geschicklichkeits- und Aufwärmübungen. Den Anfängern zeigt Jean Carlos, wie sie sich später auf dem Brett bewegen müssen. Freundschaftlich klopft er ihnen auf die Schulter, macht Witze und lobt. Längst ist er für sie so etwas wie ein großer Bruder, der ihnen eine Hoffnung auf ein besseres Leben gibt.

Surfen statt Drogen zum Geldverdienen

"Ich lerne bei Jean Carlos so viel. Ich glaube, wenn ich groß bin, habe ich durch das Surfen viele Chancen und eine bessere Zukunft", sagt Cleison. Dort wo er mit seiner Familie wohnt, gibt es keinen Luxus. Kaum jemand hat fließendes Wasser. Krankheiten und Gewalt bestimmen den Alltag. Die Kinder, die in der Favela leben, haben keine Perspektive für die Zukunft und keine Bildung. Cleison und sein Bruder Rerisson gehen regelmäßig am Nachmittag zur Schule. "Während andere Kinder in ihrer Freizeit oft Dummheiten machen oder sich den falschen Leuten anschließen, sind die Brüder bei Jean Carlos in guter Obhut", sagt die Mutter der beiden Jungs. Sie klingt dankbar.

"In einiger Zeit werden die meisten so gut sein, dass sie selbst Unterricht geben können", meint Jean Carlos, während er den Kids Kommandos zuruft: "Aufstehen! Ausbalancieren! Wieder hinlegen! Und paddeln!". Dann fügt er hinzu: "Oder sie können in einem Surf-Shop arbeiten. Sie werden sehen, dass das Surfen auch eine Einkommensquelle für sie sein kann. Und eine ehrliche noch dazu." Damit sie im Wasser auf dem glitschigen Brett nicht ausrutschen, müssen die Kinder die Surfbretter, die Jean Carlos unter seinem weiß-blauen Sonnenschirm gelagert hat, noch mit speziellem Surfwachs einreiben. Dann geht es endlich ab in die Wellen. Der Lehrer ist immer dabei. Bei den passenden Wellen schubst er die paddelnden Anfänger an, damit sie schnell ein Erfolgserlebnis haben.

Der Traum: Mit den Wellen um die Welt reisen

Nicht nur den sonst sehr teueren Surfunterricht bekommen die Kinder aus der Favela von Jean Carlos kostenlos, auch die Surfbretter stellt er. "Ich will diesen Kindern Möglichkeiten geben, die ich selbst nicht hatte. Ein Surfbrett ist sehr teuer und arme Familien haben dafür kein Geld", erklärt Jean. Die meisten sind abgenutzte Bretter von professionellen Surfern oder wurden gespendet. Die Kinder, die schon länger surfen und Fortschritte machen, bekommen von Jean Carlos ein Brett geschenkt. "So können sie dann auch alleine surfen gehen. Das motiviert sie, macht sie stolz. Und es gibt ihnen das Gefühl, etwas Wert zu sein, weil sie von anderen Bewunderung bekommen", weiß der ehrenamtliche Surflehrer.

Gleison surft seit einem Jahr und steht schon richtig gut auf seinem Brett. Auch sein siebenjähriger Bruder Rerisson, den jede zweite Welle vom Brett fegt, gibt so schnell nicht auf: "Ich schaffe es schon aufzustehen, aber ich muss noch mehr lernen, damit ich später ganz hohe Wellen surfen kann", sagt Rerisson und spricht damit den Traum an, den sie alle haben. "Das Land verlassen, mit den Wellen um die Welt reisen und die 50 Fuß hohen Wellen in Hawaii reiten", das wünscht sich sein großer Bruder.

"Natürlich haben sie alle den Traum, selbst ein Surf-Champion zu werden", sagt auch Jean Carlos, "wie Simão Romão, das ist ein guter Freund von mir und hilft auch meiner Schule. Er ist ein Vorbild für die Kinder." Nach einer guten Stunde ist die Surfstunde zu Ende. Jedenfalls für die Kinder. Auf Jean Carlos warten bereits ein paar amerikanische Jugendliche, die ebenfalls von ihm Unterricht bekommen – gegen Bezahlung natürlich. Jeden Tag arbeitet Jean Carlos von den frühen Morgenstunden bis zum Nachmittag, um sich über Wasser halten zu können. Trotzdem verliert er nie die Motivation für sein ehrenamtliches Engagement: "Es tut so gut, die Begeisterung der Jugendlichen für das Surfen wachsen zu sehen. Sie kommen morgens ganz früh hier an den Strand, manche schon um sechs Uhr. Ich sehe ihre Energie, ihre Willenskraft, das Surfen zu lernen. Es erfüllt mich, diese jungen Menschen zu sehen, die den richtigen Weg einschlagen".


Kathi Haid ist freie Autorin und war mehrere Wochen in Brasilien unterwegs.