"Wenn es etwas zu sagen gibt, schreiben wir es auf"

"Wenn es etwas zu sagen gibt, schreiben wir es auf"
Für Behinderte ist es oft schwer, einen Job zu finden. Für Taubstumme ist schon die Bewerbung schwierig, ein Bewerbungsgespräch unmöglich und die meisten Betriebe sind nicht auf Behinderte eingerichtet. Maike Zimmermann hat es trotzdem geschafft und ihren Namen zum Beruf gemacht: Die Taubstumme ist Tischlerin.
26.03.2010
Von Cornelia Kurth

Maike Zimmermann (23) wäre so gerne LKW-Fahrerin geworden. Das war ihr Wunsch von Kindestagen an und wenn sie in ihrer Freizeit am PC sitzt, dann ist sie ein Brummifahrer, der mit Hilfe eines Simulationsprogramms über Landstraßen und Autobahnen kurvt. Mit einer entsprechenden Ausbildung konnte es nicht klappen, weil sie dafür einfach zu schlecht sieht. Jetzt arbeitet die zierliche junge Frau aus dem niedersächsischen Lauenau in einer Stuhlfabrik. Auch das ist etwas Besonderes, denn Maike Zimmermann ist seit ihrer Geburt taubstumm. Für Menschen mit solchen gravierenden körperlichen Behinderungen ist es sehr schwer, eine Arbeit außerhalb von beschützenden Werkstätten zu finden.

"Es gab eine Zeit, wo wir fast verzweifelten", sagt Maikes Vater, der Ingenieur Bernd Zimmermann. "In vielen Praktika hieß es, Maike sei gar nicht wirklich interessiert, sie wirke geistesabwesend, wolle in Wirklichkeit gar nicht arbeiten. Wir aber wussten so genau, dass das nicht stimmt!" Jeden Morgen sei seine Tochter früh raus und bei Wind und Wetter viele Kilometer mit dem Fahrrad über die Dörfer zum jeweiligen Arbeitsplatz geradelt. Sie habe unbedingt beweisen wollen, dass sie zu gebrauchen sei und was sie während ihrer Ausbildung zur Tischlerin im Landesbildungszentrum für Hörgeschädigte in Hildesheim gelernt hatte.

Verlegenes Schweigen bei den Sprechenden

"Maike hat nach dem erweiterten Hauptschulabschluss eine vollwertige Tischlerlehre mit einer ganz normalen Prüfung abgeschlossen", so ihr Vater. "Sie mag diesen Beruf. Ganz bestimmt war sie nicht gelangweilt. Es sind einfach diese Missverständnisse und Vorurteile, die unvermeidlich entstehen, wenn ahnungslose Leute auf Gehörlose und ihre besondere Art der Kommunikation treffen."

Tatsächlich stehen die meisten Leute erstmal etwas ratlos da, wenn sie mit Maike reden wollen. Wie soll das eigentlich gehen bei einem Menschen, der nur ganz laute Geräusche wahrnehmen kann, zum Beispiel eine Sirene, einen Knall oder ein Martinshorn? Der, wenn überhaupt, nur nuschelige Worte spricht, verständlich höchstens für engste Vertraute. Der keineswegs, wie manche es harmlos denken, gesprochene Sätze vom Mund ihres Gegenübers ablesen kann. "Es gibt Gehörlose, denen das gelingt", sagt Maikes Mutter Cornelia Zimmermann. "Doch leider funktioniert Maikes Ultra-Kurzzeitgedächtnis nicht gut. Die Mundbewegungen sind viel zu schnell, und bereits wieder vergessen, bevor sie sie 'übersetzen' konnte."

Klar kann Maike reden, flüssig, lebhaft, gut verständlich - in der Gebärdensprache. Sie hat einen hörgeschädigten Freund, mit dem das prima läuft, ebenso wie mit den ehemaligen Kollegen während der Berufsausbildung oder auch - eingeschränkt - mit ihrer Mutter, die am Germanistischen Institut in Hildesheim einen Sprachkurs für Eltern gehörloser Kinder belegte. Am Arbeitsplatz aber kann niemand gebärden und es ist auch kein Dolmetscher da, wie bei der mündlichen Prüfung vor der Handwerkskammer. Kein Wunder, dass während der Praktika oftmals einfach verlegenes Schweigen herrschte.

Gebärdensprache erst spät gelernt

Maike Zimmermann kam als dritter Drilling zur Welt, ein Frühchen, das nur mit Hilfe von schweren Medikamenten überleben konnte. Ihre beiden Geschwister haben die Frühgeburt gut überstanden, bei ihr aber wurden bald die Gehörlosigkeit und eine Sehschwäche entdeckt. Ihr erstes Hörgerät bekam sie mit 18 Monaten, sie besuchte den Gehörlosenkindergarten und später eine entsprechende Schule. "Es war ein langer, schwieriger Weg, das Sprechen und Schreiben zu lernen", erzählt ihre Mutter. "Damals durften Gehörlose noch nicht die Gebärdensprache lernen, sie sollten dazu erzogen werden, durch gesprochene Worte mit den Hörenden zu kommunizieren. Maike sollte immer die Hände in den Hosentaschen haben, damit sie auf Gebärden verzichtet. Schließlich weigerte sie sich einfach, jemandem, der sprach, auf den Mund zu schauen."

Lange schien alles stillzustehen, so, als sollte es niemals eine gemeinsame Sprache geben können. Doch dann, in der Schule, wo Sprechen und Gebärden gleichzeitig gelernt wurden, begriff das Kind zum ersten Mal die Gebärdenzeichen für die Farben. Für Rot zeigt man auf die Lippen, Grün wird durch emporgehobene Finger ausgedrückt, die Gras symbolisieren, Blau ist eine drehende Fingerbewegung, die an ein blaues Polizeilicht erinnert. Endlich konnte das Kind so was "sagen" wie: "Ich möchte etwas von dem Roten", von der Marmelade zum Beispiel oder dem Apfel. Auf diesen Anfängen baute dann alles weitere auf.

Urlaub allein? Kein Problem für Maike

Cornelia Zimmermann (Bild links, mit ihrer Tochter Maike) besitzt einen ganzen Stapel dicker Schreibhefte, in denen sie ein Bildertagebuch für ihre Tochter führte. Zeichnungen, Fotos, Eintrittskarten und Prospekte dokumentieren die Kindheitserlebnisse von Maike, ein richtiger Schatz, den die beiden sich noch immer oft zusammen angucken. Auch wenn Maikes Ultrakurzzeitgedächtnis große Schwächen hat, ihr Langzeitgedächtnis ist dafür um so besser. Zahlen und Daten kann sie mit Leichtigkeit behalten und die Tagebuchhefte kennt sie in- und auswendig.

"Überhaupt ist Maike ja nicht geistig behindert", so die Mutter. "Nur wirkt das auf manche im ersten Moment so." Ihre Tochter hat den Führerschein gemacht, sie liebt Schwimmen und Fußballspiel und vor allem das Radfahren. Ganz alleine unternimmt sie seit Jahren lange Fahrradtouren entlang der europäischen Flüsse, war in Budapest, Basel und in Holland an der Nordsee. "Oh, es war nicht leicht, sie so ziehen zu lassen", meint Cornelia Zimmermann. Doch Maike will unbedingt selbständig sein. Auf ihren Touren, wo sie auf Zeltplätzen übernachtete, hat sie immer vorbereitete Zettel bei sich, auf denen steht, dass sie gehörlos ist und dies oder das wissen will. Jeden Abend schickt sie den Eltern eine SMS, um zu berichten, dass es ihr gut geht. Und es war in solchen unbefangenen Urlaubssituation gar nicht schwer, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen.

Mehr Aufwand, aber auch eine Bereicherung für die Ausbilder

"Es ist auch bei uns nicht schwer", sagt Volker Knolle, der Geschäftsführer in der Stuhlfabrik Heine in Hülsede, wo Maike Zimmermann seit September 2009 einen befristeten Arbeitsvertrag als Tischlerhelferin hat. Er kannte Maike bereits von einem Schulpraktikum her und war sehr aufgeschlossen, als Maike mit ihren Eltern und auch mit Arbeitsvermittlerin Astrid Hahner aus Stadthagen bei ihm vorsprachen. "Die junge Frau arbeitet gut und sehr konzentriert", sagt er. "Wenn es etwas zu sagen gibt, schreiben wir die Dinge auf."

Sicher, es sei eine Herausforderung, eine Gehörlose in die Belegschaft aufzunehmen. Alle Mitarbeiter müssten sich darauf einstellen, auch die Vorarbeiter, die sich für die Erläuterung manchen Arbeitsganges etwas mehr Zeit nehmen müssten. "Aber es ist ebenso auch eine Bereicherung", so Volker Knolle. "Nicht nur, weil Maike ein sympathischer Mensch ist. Jedem von uns kann ein Unfall passieren, auch das eigene Kind kann schwer behindert sein - es ist ein gutes Gefühl zu wissen, dass es trotzdem Möglichkeiten gibt, ganz normal zu arbeiten."

Ohne einen Eingliederungszuschuss von der Agentur für Arbeit allerdings hätte es sich die Firma wohl nicht leisten können, Maike einen Arbeitsplatz anzubieten. "Wir mussten ja schon die Arbeitszeit unserer Belegschaft reduzieren, da unsere Auftraggeber - Alterheime, Krankenhäuser, Kurkliniken - verstärkt billige Sitzmöbel aus dem Osten beziehen", sagt er. "Früher hatten wir sehr viel mehr Arbeitsplätze im Produktionsbereich." So ist es noch ungewiss, ob Maike nach dem 31. Mai noch weiter bei ihm beschäftigt sein kann.

Jede Beschäftigung verbessert die Chancen auf dem Arbeitsmarkt

Arbeitsvermittlerin Astrid Hahner glaubt trotzdem, dass sich ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt durch die Beschäftigung in der Stuhlfabrik deutlich verbessert haben. Sie wird ein gutes Zeugnis bekommen und kann in Zukunft auf ihre Berufserfahrung verweisen. "Viele junge Körperbehinderte oder auch solche mit leichten Lernschwierigkeiten bekommen gar nicht erst die Chance, zu beweisen, was sie können", sagt sie. "Wenn in den Bewerbung etwas von einer Behinderung steht, winken die meisten Arbeitgeber gleich ab. Selbst die Tatsache, dass dann eine Ausgleichsabgabe zu zahlen ist, ändert daran wenig."

Die engagierte Frau vermittelt hauptsächlich Arbeitssuchende, die aufgrund einer schweren Krankheit wie Krebs, Diabetes oder einem Herzproblem vor erschwerten Bedingungen stehen. "Da haben die Verantwortlichen in den Firmen weniger Berührungsängste, weil sie nämlich selbst oft Menschen kennen, die von solchen Krankheiten betroffen sind." Ihr Appell an potentielle Arbeitgeber: "Sie sollen einfach mal bei ihrer Agentur für Arbeit anrufen und nach den Bedingungen für die Beschäftigung behinderter Menschen fragen." Solche Beschäftigungsverhältnisse werden finanziell gefördert. "Und außerdem sind alle bei uns gemeldeten Arbeitssuchenden auf jeden Fall arbeitsfähig. Oft baut schon ein Praktikum alle geheimen Befürchtungen ab."

Ob Maike Zimmermann Angst vor der Zukunft hat? Ihre Mutter, die diese Frage "übersetzt", meint: "Schreiben Sie, dass die Leute möglichst viele Stühle aus Deutschland kaufen sollen. Dann kann die Firma es sich leisten, Maike weiter zu beschäftigen."


Cornelia Kurth ist freie Journalistin in Rinteln und schreibt für die Schaumburger Zeitung.