Journalismus im Netz (III): "Der Charme der Reichweite"

Journalismus im Netz (III): "Der Charme der Reichweite"
Sorgt das Internet für einen Verlust an Qualität im Journalismus? Bei der Tagung "Qualität unter Druck - Journalismus im Internetzeitalter" an der Evangelischen Akademie Tutzing gingen Medienmacher und Medienwissenschaftler zwei Tage lang dieser Frage nach. Zudem skizzierten sie, wie sich Qualität im Netz verwirklichen lässt. Evangelisch.de dokumentiert in dieser Woche fünf Vorträge der Tagung. Heute den von Volker Herres, Programmdirektor der ARD.
10.03.2010
Von Volker Herres

Anmerkungen zur Qualitätsdebatte

Wenn man nach Jens Jessen spricht, dann ist es naheliegend, im Archiv insbesondere nach Fundstücken aus der ehrwürdigen "Zeit" zu schauen. Hab’ ich natürlich getan. Und dort eine, wie ich finde, interessante Frage des Publizisten Richard David Precht gefunden, die ich zitieren möchte: - "Was eigentlich", fragt Precht, "was eigentlich stört diejenigen, die ohnehin kaum fernsehen, daran, dass diejenigen, die gerne fernsehen, so viel Mist sehen? Dass das deutsche Volk via Fernsehen ‚verdummt’ werde, ist ja weder besonders originell noch richtig. Wer das tatsächlich glaubt, setzt immerhin voraus, der Bürger sei zu einem früheren Zeitpunkt intelligenter gewesen - eine historisch gewagte These." – Soweit Precht.

Und er hat, finde ich, recht, denn schon Erasmus von Rotterdam wusste: "Die Zahl der Dummen und Einfältigen ist überall sehr groß", und daran scheint sich wenig geändert zu haben – weder durch die "Zeit", noch durch das Fernsehen.

"Im Zentrum der Kritik"

Gleichwohl, wenn es Defizite in der Gesellschaft zu beklagen gibt, dann muss rasch das Fernsehen herhalten. Und im Zentrum der Kritik steht dabei das öffentlichrechtliche Fernsehen, offenbar weil man von den anderen ohnehin nichts mehr erwartet und - längst auch nicht einmal mehr fordert.

Das Schöne an derlei Debatten ist – man kennt die gegenseitigen Argumente. Sie scheinen durch Wiederholung nichts von ihrem Reiz zu verlieren. Wir hauen sie uns gerne auf Podien und Medienseiten um die Ohren.

Nur ein – ohnehin stummer - Teilnehmer an diesem Austausch wird ständig ausgeblendet: der Zuschauer. – Dabei ist er es doch, der Tag für Tag, millionenfach und messbar seine Entscheidung über unsere Angebote fällt. Tagtäglich findet er hierzulande ein riesiges Angebot an Information und Unterhaltung vor, auf einer Vielzahl von Ausspielwegen. Geboten wird nahezu alles, und was macht der Nutzer? - Er trifft seine Wahl.

Mal ist dabei das Bedürfnis nach Information ausschlaggebend, ein anderes Mal steht die Suche nach Rat und Service im Vordergrund, oder, - häufig eben -, schlicht die Lust auf Entspannung und Unterhaltung. Seinen vielfältigen Interessen kann der Mensch lesend frönen, hörend oder schauend. Auf unterschiedlichstem Niveau. Besonders anspruchsvoll aufbereitet, eher erklärend und einordnend, oder auf die schiere Zerstreuung setzend.

Und nun wird er, dieser Mensch in der Rolle des Zuschauers, für dumm erklärt. Denn zu glauben, der Vorwurf der Dummheit träfe im Falle der Kritik am öffentlich-rechtlichen Fernsehen nur jene, die für die "erste Reihe" produzieren und programmieren, wäre ein wenig verlogen. Natürlich sind mit den Dummen auch unsere Rezipienten gemeint.

Auch mein verehrter Vorredner (gemeint ist Jens Jessen, d.Red.) reibt sich an unserer "Dummheit" wund, der der Macher und der der Konsumenten. Ziemlich regelmäßig einmal im Jahr, wie es scheint. Auch seine Argumente, wir haben sie eben wieder gehört, sind über die Jahre die gleichen geblieben. Ich möchte ihn, wie den Brechtschen Herrn Keuner, mit den Worten begrüßen: "Sie haben sich gar nicht verändert."

Vor allem zwei Dinge sind Jens Jessen ein Dorn im Auge: Gebühren und Quoten. Wenn dazwischen noch ein Zusammenhang hergestellt wird, dann ist die "Dummheit in der ersten Reihe" perfekt:

Wir vernachlässigen die Gebildeten, proletarisieren die Masse, biedern uns dem Prekariat und den Privaten an, bringen zu viel Sport, zu viel Zerstreuung, zu viel Soaps, zu viele Happy Ends. Wir sind veraltet, verhuscht, verantwortungslos. Wir senden ganz einfach das Falsche. Immer. Und das auch noch schlampig, wenn nicht schlecht gemacht.

"Schwert der Aufklärung"

Wir ‚schielen’ (eine merkwürdige Metapher übrigens, wie ich finde) nach Quoten, wir seien - so hat uns Jessen tituliert - "Quoten-Idioten", ja, die Quote - so konnte ich in der "Zeit" lesen - sei sogar unser "Gott". Was sind wir für ein gotteslästerlich verkommener Haufen – und das auch noch mit viel Geld.

Dabei wäre doch alles so einfach: Mit dem Schwert der Aufklärung in der Hand sollten wir - Quoten, Akzeptanz und Publikumsinteressen negierend - für das Gute, Edle und Schöne kämpfen. Für den fernsehenden "Zeit"- Leser eben. Und zwar im Hauptprogramm, um 20.15 Uhr. Und wenn’s das Publikum, nicht will? – Dann: Umso schlimmer für das Publikum!

Gleichzeitig wird uns eine zynische Verachtung des Zuschauers unterstellt, weil wir ihn eben nicht zu seinem Glück zwingen wollen, sondern eher durch geschickte Programmierung zu verlocken und zu überreden trachten, auch bei nicht ganz so populären Themen "dran" zu bleiben. Wir versuchen eben auch jene Menschen, die sich nicht automatisch der Information und gewichtigen Themen zuwenden, immer wieder aufs Neue zu gewinnen - zwingen können und wollen wir sie ja nicht.

"Medium der Unterhaltung"

Wo, außer im "Ersten", gelingt denn ein ‚Audience Flow’, der die Zuschauer einer Krankenhausserie für ein Wirtschaftsmagazin im Anschluss zu gewinnen vermag, der den passionierten Fernsehfilm- oder auch Krimigucker in eine politische Talkshow mitnimmt, der nach einer unterhaltenden Serie oder einem Naturfilm für ein politisches Magazin oder eine klassische journalistische Dokumentation begeistern kann? – Oder der das Interesse an einer Fußballweltmeisterschaft mit einem Afrikaschwerpunkt im Programm verbindet? Fernsehen ist eben weit mehr als ein journalistisches Medium.

Fernsehen ist seiner medialen Natur entsprechend ein Medium der Unterhaltung, des Geschichtenerzählens, des Live-Erlebnisses. Und gerade weil es diese Spannweite besitzt, kann das Fernsehen – immer noch – und mehr als jedes andere Medium – mit sogenannten "Vollprogrammen" die Gesellschaft wenigstens ein Stück weit zusammenhalten, was sie nach meiner Überzeugung heute mehr denn je nötig hat.

Und diese gesellschaftliche Integrationsfunktion ist ja auch Teil unseres öffentlich-rechtlichen Auftrages. Das Erste kann sich eben nicht auf ein bestimmtes Segment der Bevölkerung fokussieren oder in die Kuscheligkeit bürgerlich-intellektueller Welten zurückziehen. Wir machen Fernsehen für alle, für ganz normale, real existierende Menschen – auch für die sogenannten "einfachen Menschen", von denen es übrigens heißt, Gott liebe sie, sonst hätte er nicht so viele geschaffen – um auf den "Gott der Quote" zurückzukommen.

Menschen – übrigens auch die gebildeten Stände - schalten gerade das Fernsehen gern ein, um auch mal abzuschalten, um zu entspannen. Das ist nun einmal ein Grundbedürfnis von Menschen, und es schadet auch niemandem. Die häufig an Maßstäben der Kultur, gar der Hochkultur und des Anspruchs orientierte Fernsehkritik hat deshalb auch leicht etwas Bigottes.

"Querschnitt des Gesamtangebots"

Was da als Maßstab genommen wird, das lässt sich eben nur in Spartenprogrammen erfüllen. Und da ist es ja auch reichlich vorhanden. Ein reichweitenstarkes Vollprogramm indes kann Qualität nur als Querschnitt des Gesamtangebotes bieten. Und: Was unter Qualität zu verstehen ist, das lässt sich auch nur genrespezifisch definieren. Weil die Qualität einer Sportübertragung eben andere Maßstäbe erfordert, als die einer Unterhaltungsshow oder einer Nachrichtensendung.

Das, was man tut jedenfalls, sollte man jeweils so gut wie möglich tun. Sei dies in der politischen Information, im Fiktionalen, in der Unterhaltung oder im Sport - im Leichten, Seichten wie im Anspruchsvollen. Die BBC hat dieses Bemühen in ihrem Unternehmensmotto auf den Punkt gebracht: "To make the good popular and the popular good."

Da es in dieser Veranstaltung aber um Journalismus gehen soll, will ich jetzt darauf fokussieren: Journalismus im Fernsehen.

"Domäne für Journalismus"

Mit einer pauschalen und zwangsläufig subjektiven Kritik an unseren Programmen, dem Ersten gleich noch die Qualität seiner journalistischen Berichterstattung abzusprechen, ist absurd. Man zieht ja auch nicht das Vermischte heran, um die Qualität des Leitartikels zu beurteilen.

Unverändert ist das "Erste" im deutschen Fernsehen die Domäne für Journalismus mit breiter Wirkung. Da mag man dieses oder jenes kritisieren, wir sind ja nicht unfehlbar, aber das Ganze, meine ich, kann sich - im Wettbewerb mit anderen - durchaus sehen lassen, und es behauptet sich in einem Markt, in dem es Informationsangebote höllisch schwer haben.

So senden wir täglich allein rund sechs Stunden tagesaktuelle Informationen vom "Morgen"- über das "Mittagsmagazin", bis hin zu einem verlässlichen Nachrichtengerüst rund um die Uhr und hintergründiger Aufbereitung in "Tagesthemen" und "nachtmagazin". Die 20-Uhr-Ausgabe der "Tagesschau" ist in Deutschland unverändert und mit großem Abstand die meistgesehene Nachrichtensendung – übrigens auch bei den Jüngeren und erreicht täglich an die zehn Millionen Menschen. Wir haben eine große Palette an Magazinen zur Innenpolitik, zu Auslands- und Europathemen, Wirtschaft und Kultur, Service und Beratung.

Ein solches Angebot, das kann man ohne Übertreibung sagen, sucht seinesgleichen in der Fernsehlandschaft. Man kann auch zuspitzen: Journalismus im Fernsehen findet doch jenseits des öffentlich-rechtlichen Sektors spürbar kaum noch statt. Während bei uns im "Ersten" immer noch rund 40 Prozent der Programmfläche der Information ‚gehören’.

Als Public-Service-Unternehmen bemühen wir uns, unabhängige Orientierungshilfe zu bieten - in einer komplexen Welt. Für uns bedeutet Qualitätsjournalismus die Qualität der Erklärung, der Vermittlung auch schwieriger Zusammenhänge für möglichst viele Menschen.

"Korrigierende Gegenkräfte"

Wenn wir über die Presse und das Internet diskutieren, so wissen wir doch - schmerzhaft! - dass hierzulande die ökonomische Basis für Qualitätsjournalismus rapide schrumpft. "Papa, wie lange gibt es noch Zeitungen?", hat mich mein Sohn neulich ernsthaft gefragt. "Auf dem Spiel steht unsere Meinungsvielfalt" hieß es unlängst im "Zeit"-Dossier über die Zeitungen und Zeitschriften in der Krise. Wenn, so der Dossier-Titel, "Deutschland, entblättert" wird, dann ist es doch vielleicht gerade umso wichtiger und klüger, die wenigen, noch leistungsfähigen korrigierenden Gegenkräfte im Markt zu stützen.

Denn die Qualität im Journalismus ist ja nicht nur eine Frage der Qualität der Journalisten. Wie viel Qualität sich der einzelne Journalist noch leisten kann, ist doch auch eine Frage der Qualität des gesamten Mediensystems. Die Frage nämlich, ob es am Ende überhaupt noch – und wenn ja, wie viele? - Arbeitsplätze gibt, die journalistisch qualitative Hervorbringungen ermöglichen.

Und dabei spielt gerade das öffentlich-rechtliche Fernsehen – jenseits seiner Zerstreuungsfunktion – unverändert auch eine ganz erhebliche publizistische Rolle - und dies mit nennenswerter Reichweite. Wäre es anders, würde die Kritik uns auch nicht gar so sehr mit ihrer – beinahe ungeteilten – Aufmerksamkeit verwöhnen.

Man kann unsere Rolle im "dualen System" auf einen Satz zuspitzen: Öffentlich-rechtlicher Rundfunk braucht Geld, das ist wahr, um Programm zu machen. Privatfernsehen braucht Programm, um Geld zu machen.

Wir bekommen unser Geld vom Gebührenzahler. Und das sind hierzulande im Prinzip alle. Also müssen wir auch Programme für alle bieten – getreu dem "Vorspiel auf dem Theater" in Goethes "Faust", wo es so wunderbar formuliert heißt: "Die Masse könnt Ihr nur durch Masse zwingen, Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus. Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen; Und jeder geht zufrieden aus dem Haus."

"Kritische Begleitung"

Derzeit wird hierzulande wieder lebhaft über Qualität im Fernsehen gesprochen. Ich begrüße diese Debatte ausdrücklich. Wünschen würde ich mir freilich, dass sie sich nicht immer nur auf die Angebote von ARD - und vielleicht noch des ZDF - beschränkt, sondern auch häufiger einmal wieder nach der Qualität der kommerziellen Angebote im Fernsehmarkt gefragt würde.

Die für deren Kontrolle zuständigen 14 Landesmedienanstalten werfen diese Frage ja kaum - bis nicht mehr - auf, sondern sind zu Lobbyisten des kommerziellen Rundfunks mutiert.

Dabei haben die Angebote unserer privaten Wettbewerber kritische Begleitung durchaus auch verdient. Schauen Sie sich nur einmal exemplarisch die Nachmittagsangebote auf Sat.1 oder die neuen RTL-Formate "Verdachtsfälle" oder "Familien im Brennpunkt" aus der Welt der sogenannten "Scripted Reality" an – oder auch die erfolgreichen Formate des "Menschenzoos", wie Stefan Niggemeier gestern in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" schrieb, am Abend, wo man es auch durch besondere Kunstfertigkeit im Umgang mit seinen Darmgasen zum "Supertalent" bringen kann.

"Spitzenangebote"

Ich erwähne dies nicht, um von der Qualitätsdebatte bei uns abzulenken, sondern um deutlich zu machen, dass alles Gerede von der Konvergenz Unsinn ist. Sendungen wie die genannten wird es bei uns nicht geben. Unsere Gesamtkomposition ist eine andere.

Übrigens nicht nur im Bereich der Information, sondern ebenso bei unserer zweiten Säule des Programms: im Fiktionalen. Woche für Woche bietet das "Erste" hier vom "Tatort" bis zum "Film-Mittwoch" Spitzenangebote, flankiert von regelmäßigen TV-Events, wie wir sie 2009 im Programm hatten, mit Filmen wie "Mogadischu", mit "Jenseits der Mauer", "Romy" oder dem "Baader-Meinhof-Komplex". Oder – kleiner Ausblick auf 2010 – haben werden, mit den "Buddenbrooks", mit "Henry IV", "Rommel", "Wüstenblume", Kroetzens "Geschichte vom Brandner Kaspar", "Kennedys Hirn" nach Henning Mankell, Wedels "Gier" u.v.a.m.

Wer aber die Qualitätsdebatte im Fernsehen führt, der sollte m.E. schon redlich unterscheiden zwischen "Qualität" und "Anspruch". Beides wird im bildungsbürgerlichen Denken gern synonym verwendet. Das Anspruchsniveau einer Sendung kann gar nicht hoch genug sein – je anspruchsvoller, desto mehr Qualität. Als Genussmittel für Eliten sozusagen, die dank Erziehung, Bildung und Ausbildung in der Lage sind, dem Anspruch einer Sendung zu genügen.

Und was ist mit dem Rest? - In diesem Modell hätte die Mehrheit wieder einmal zu schweigen – und sich dem Geschmacksdiktat der Bildungsanstalt Fernsehen zu unterwerfen. Qualität überall dort zu verneinen, wo der eigene Geschmack sich nicht wieder findet oder worüber er sich erhaben glaubt, erscheint mir wenig zielführend für eine Qualitätsdeb tte, die diesen Namen verdient hätte.

"Angebotspluralismus"

Toleranz beginnt bekanntlich dann, wenn man akzeptiert, was einem selbst nicht gefällt. Qualität beginnt nicht erst, wenn Hochkultur geboten wird. Sie beginnt mit inhaltlicher Vielfalt und Angebotspluralismus. Keineswegs muss allen alles gefallen. (Siehe oben: Goethe.)

Es muss schon "die ganze Gesellschaft" Zielgruppe sein, wie es ja auch Jens Jessen einmal formuliert hat. Nur komme ich dabei zu einem gänzlich anderen Schluss, wenn man die gesellschaftlichen Realitäten im Auge behält. Denn das weniger gebildete Publikum macht nun einmal die Mehrheit aus, nicht "das bürgerliche, das gebildete und kritische Segment", von dem Jessen – wie ich finde, zu Unrecht übrigens - befürchtet, es würde in unseren Hauptprogrammen nicht mehr bedient oder in "Spartensendern marginalisiert".

Wo marginalisieren wir denn nun im "Ersten" das gebildete bürgerliche Publikum? - Die Woche hindurch bei "Tagesschau" und "Tagesthemen"? - Sonntags beim "Tatort", bei "titel thesen temperamente" oder "druckfrisch"? - Montags bei Dokumentationen oder politischen Magazinen? - Dienstags bei "Plusminus" oder "Maischberger"? - Oder doch eher mittwochs bei einem anspruchsvollen Fernsehfilm, gefolgt von "Hart aber fair"? - Donnerstag ist womöglich ein entbehrungsreicher Tag für den zerstreuungsresistenten Bildungsbürger. Da muss er durch Unterhaltung durch, bis dann endlich ein weiteres politisches Magazin folgt, und später dann noch "Harald Schmidt".

"Staatstragende Rolle"

Jens Jessen hat ARD und ZDF eine durchaus staatstragende Rolle bescheinigt, wenn er schreibt: "Das Erste und das Zweite Programm definieren die Mitte der Gesellschaft", um dann kritisch anzumerken: "Wenn diese als ein Biotop gedacht wird, in dem Akademiker oder ganz allgemein höher organisierte Wesen nichts zu suchen haben, dann können wir uns alle Bildungsanstrengungen, alle Pisa-Studien und Bologna-Prozesse schenken."

"Höher organisierte Wesen"? - Das muss man sich erst mal trauen zu sagen oder gar zu schreiben. – Und was ist dann mit dem sogenannten Rest, also der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung, den – in dieser Logik - "niedriger organisierten Wesen"? Die zahlen zwar ebenfalls Gebühren, sollen sich aber ganz offensichtlich gefälligst nach den "höher organisierten Wesen" richten.

Ganz auf dieser Linie argumentierte auch das diesjährige "Zeit"-Dossier über das öffentlich-rechtliche Fernsehen, Titel: "Unser Gott, die Quote". Ein Artikel voll des Anspruchs - und der sachlichen Fehler übrigens. Falscher Sachbehauptungen, die der Medienjournalist Stefan Niggemeier in seinem Blog anschließend genüsslich auseinandernahm – und die auch der Chefredakteur des Blattes "bedauert" hat.

Ich hätte dieses "Dossier" nicht erwähnt, sondern großzügig und schamhaft verschwiegen, wenn die Autoren dort nicht so aufschlussreiche Betrachtungen über unser Publikum angestellt hätten. Sie philosophieren nämlich über ein sozial nicht problemfreies Viertel in Hamburg, den Stadtteil Jenfeld. "Der Jenfelder", so stand es in der "Zeit", "ist nur deswegen wichtig geworden, weil die Programmplaner ihn aufgewertet haben."

"Recht auf Gegenleistung"

Nun wird "Die Zeit" vermutlich in Jenfeld tatsächlich eher selten gelesen und die Autoren machen auch mehr als deutlich, dass sie für diesen Teil der Bevölkerung nicht zu schreiben gedenken. "Die Zeit" kann das, wenn sie möchte. Das Erste kann und darf es nicht. Denn auch der "Jenfelder" zahlt Gebühren und hat das Recht, dafür eine Gegenleistung zu erhalten. Und zwar eine, die ihn ernst nimmt, indem sie seine Interessen zu berücksichtigen sich müht und ihn – manchmal vielleicht doch! – auch hinüberzuziehen versteht, zu Sendungen, denen nicht sein erster Einschaltimpuls gilt.

Oder sollen wir dem "Jenfelder" und seinen Schicksalsgenossen in ganz Deutschland ein markiges "Friss oder stirb" zuzurufen, um sich dann auf ein elitäres Qualitätsfernsehen für die gebildeteren Stände zurückzuziehen?

Nein: Wir sind gerade auch dem "Jenfelder" verpflichtet als Öffentlich-Rechtliche. Diesen links – oder schlimmer noch gar "rechts" - liegen zu lassen, können, sollen und wollen wir uns nicht erlauben.

Öffentlich-rechtliches Fernsehen muss seine Relevanz für die Gesellschaft immer über Inhalte erringen, aber es muss ebenso Relevanz durch Reichweiten erzielen. Die Quote ist nicht alles, aber ohne Quote ist schnell alles nichts. Denn breite Bevölkerungsschichten für wichtige politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Themen zu interessieren – das gelingt nur mit einem Programm, das strukturell mehrheitsfähig ist.

"Wichtigste Informationsquelle"

In der – für dieses Jahr noch nicht gänzlich abgeschlossenen – Liste der meistgesehenen Fernsehsendungen dürfte das erste Spiel der deutschen Nationalmannschaft nach dem Tod ihres Torwarts Robert Enke die meisten Zuschauer versammelt haben: Die Begegnung "Deutschland - Elfenbeinküste" am 18. November verfolgten 10,26 Millionen Fernsehzuschauer. Ganz dicht gefolgt von einem "Tatort" des WDR, Titel "Tempelräuber", den 9,86 Millionen Menschen einschalteten. Aber auch eine Ausgabe der "Tagesschau" brachte es am 27. September in die Nähe der magischen 10-Millionen- Grenze mit - allein im "Ersten" - 9,26 Millionen Zuschauern.

Im Bereich der Information wird die Hitliste des Weiteren angeführt vom Kanzlerduell "Merkel, Steinmeier" mit 7,85 Millionen Zuschauern. Dass sich 55 Prozent der Zuschauer dafür entschieden haben, diese auf vier Kanälen parallel zu sehende Sendung im "Ersten" zu verfolgen, ist eine Zahl, die für sich spricht.

Über den "Amoklauf in Winnenden" haben sich 6,7 Millionen Zuschauer bei einem "Brennpunkt" im "Ersten" informiert. Aber auch bei Dokumentationen versammelt das "Erste" ein Millionenpublikum vor dem Bildschirm, etwa bei der Reihe "Legenden", bei den Folgen der Reihe "Kriegskinder", bei Einzelstücken wie einem Porträt von Angela Merkel oder Filmen wie "Schabowskis Zettel", der "Kampf um Opel" oder der "Begegnung mit Marcel Reich-Ranicki" u.v.a.

Und auch im vergangenen Bundestagswahlkampf wurde das Fernsehen von den Bürgern als die mit Abstand wichtigste Informationsquelle genannt. 69 Prozent der in Untersuchungen Befragten haben sich über das Fernsehen informiert, 44 Prozent über Zeitungen, 23 Prozent im Hörfunk, 18 Prozent im Internet und 14 Prozent bei den Zeitschriften. 30 Millionen Bürger hat das "Erste" mit seinem Angebot zur Bundestagswahl erreicht. Und damit ziemlich genau die Hälfte aller Wahlberechtigten.

Natürlich haben wir uns bemüht, unsere Wahlberichterstattung zu hinterfragen und zu evaluieren. Ergebnis: 74 Prozent der Befragten beurteilten die Wahl- und Vorwahlberichterstattung des "Ersten" mit "sehr gut" oder "gut". "Das Erste" - alle Studien belegen es – genießt auch in toto bei seinem Publikum - unverändert und seit Jahren stabil - eine hohe Wertschätzung.

"Wertschätzungsproblem"

Volker Lilienthal hat erst jüngst ein "Wertschätzungsproblem des Journalismus" diagnostiziert. "epd medien" zitierte ihn mit der Analyse, "dass der Anspruch, möglichst exklusiven Journalismus zu machen, allein nicht genügt. Er muss auch wertgeschätzt werden, um sich an der Macht halten zu können."

Das betrifft uns alle, Print- wie Fernsehjournalisten, gleichermaßen. Doch wenn wir diese Wertschätzung nicht gegenseitig aufbringen, um wie viel gefährdeter ist dann die Wahrnehmung des Qualitätsjournalismus in der Bevölkerung?

Unsere gemeinsame gesellschaftliche Verantwortung trägt aber nur so lange, wie unsere Stimmen ein Echo finden. Egal, in welchem Medium wir arbeiten, wichtig ist, dass wir gehört werden und zwar von möglichst vielen Menschen.

Es sind ja die gleichen Themen, die uns bewegen, die wir in unseren Medien bewegen wollen: Der Zustand unserer Gesellschaft, das Woher und Wohin, die Einordnung des aktuellen Geschehens, Analyse und Erklärung. - Das Verstehen-Wollen.

Wir äußern uns in Medien, die sich ihrer Natur nach deutlich voneinander unterscheiden. Fernsehen ist auch, aber eben bei weitem nicht nur Journalismus. Papier ist noch dazu sehr viel beständiger als Breitband. Umgekehrt sind die Leser von "Spiegel", "Focus", "Stern", "Zeit", FAZ oder SZ weitaus homogener nach Bildungsgrad und Interessen als die Zuschauer eines nationalen Vollprogramms.

Aus dieser Unterschiedlichkeit der Medien und der Adressaten, ergibt sich zwangsläufig, dass unterschiedliche Formen der Ansprache, unterschiedliche Formate und Platzierungen gesucht und gefunden werden müssen.

Einander gegenseitig pauschal die Qualität abzusprechen, schädigt am Ende alle gleichermaßen. Denn guter Journalismus ist unter Druck – ökonomisch und nicht zuletzt deswegen auch - und mit steigender Fallzahl - qualitativ. Die großen Medien müssen hier gegensteuern, bevor die Wertschätzung einer ganzen, für ein demokratisches Gemeinwesen ungemein wichtigen Berufsgruppe verspielt ist.

"Ungeheure Informationsfülle"

Wir müssen lernen, den Herausforderungen des genetisch regulierungsresistenten Internets, das aus der Massenkommunikation eine Kommunikation der Massen macht, wirkungsvoll zu begegnen. Die ungeheure Informationsfülle, die universelle Verfügbarkeit von Inhalten, bietet dem Einzelnen unbegrenzte kommunikative Möglichkeiten und Chancen. Allerdings: Der Informationstsunami des "Copy-and-Paste-Journalismus" droht den "User" mit sich fortzureißen. In der Informationsflut kann der Vereinzelte untergehen, während ihm nach Verständnis durstet. Oder, wie es der Erfolgsautor Frank Schätzing formuliert hat: Wir werden "tagtäglich mit Splitterbomben aus Information beschossen, ohne das große Ganze zu sehen".

Richard David Precht hat auf den diesjährigen Münchner Medientagen einen radikalen Strukturwandel der Öffentlichkeit konstatiert. Das Internet sei dabei, die Öffentlichkeit zu fragmentarisieren. Immer noch könne (fast) jeder teilnehmen am gesellschaftlichen Diskurs, aber er tut das alleine surfend vor seinem Monitor. In schöner Dialektik sprach Precht vom "individualisierten Kollektiv vereinzelter Masseneremiten".

Wir Journalisten müssen dem Orientierungsangebote entgegenstellen. Und unsere Ansprüche an Qualität verteidigen gegen das "Immer-schneller-immer-mehrimmer- früher". Ohne diesen sinnstiftenden Kitt medialer Integration hält auf Dauer keine Gesellschaft zusammen. Dazu aber brauchen wir das Fernsehen, gesellschaftliche Relevanz auch durch Reichweite.

Wir müssen neue Antworten finden, neue Wege, unsere Arbeit zu verbreiten, unsere Adressaten zu erreichen. Reichweite in einer immer diversifizierteren Medienwelt zu erhalten oder neu aufzubauen. Nur dann können wir auch mit Inhalten, die wir transportieren wollen, die Menschen erreichen.

Denn: "Am Ende zählt das Charisma des Inhalts", wie Matthias Döpfner dieser Tage gesagt hat. Das gilt für Journalisten bei Verlagen wie beim Fernsehen gleichermaßen.


Volker Herres  (geb. 1957) ist Programmdirektor des ARD-Gemeinschaftsprogramms Das Erste. Einem größeren Publikum ist er als Moderator der Sendung "Preseclub" bekannt.

Link: Evangelische Akademie Tutzing

Weitere geplante Beiträge in der Reihe "Journalismus im Netz":

Donnerstag: "Mehrwert für Nutzer" von Vera Lisakowski (Grimme Online Award)

Freitag: "Fit für die Zukunft" von Ulrich Brenner (Leiter Deutsche Journalistenschule)