Machtlos gegen Amoklauf: Verhindern kann sie keiner

Machtlos gegen Amoklauf: Verhindern kann sie keiner
Polizei und Landesregierung in Baden-Württemberg beugen Amokläufen vor, wirklich verhindern kann sie keiner. In den Schulen wird nach neuen Präventionsmaßnahmen gesucht.
09.03.2010
Von Tanja Tricarico

Am Morgen vor einem Jahr hat er im Radio vom Amoklauf eines Schülers in den USA gehört. Unvorstellbar, dass so etwas in seinem Einsatzgebiet passiert, denkt Dieter Schneider, baden-württembergischer Polizeiinspekteur. Doch drei Stunden später geschieht genau das, was er für unmöglich gehalten hat. Schneider wird nach Winnenden gerufen, wo ein 17-Jähriger an einer Schule um sich schoss.

Dort koordiniert Schneider Einsatzkräfte, informiert den Minister, spricht mit der Presse. "Der Amoklauf war ein einschneidendes Erlebnis", sagt der 55-Jährige. Die toten Schüler und Lehrer, die Fassungslosigkeit der Kollegen am Einsatzort. Es sind Bilder, die sich für immer einbrennen.

"Niemand muss sich seiner Gefühle schämen"

Kurz vor dem Jahrestag kommen sie wieder. Der Amoklauf mit seinen 16 Toten - der Täter erschoss sich selbst - ist Thema unter den Polizeibeamten. Viele, die damals beim Einsatz dabei waren und direkt mit dem Amokläufer konfrontiert wurden, werden bis heute betreut. Manche können nur im Innendienst arbeiten, für die Streife braucht es noch Zeit.

"Niemand muss sich seiner Gefühle schämen", sagt Schneider. "Keiner spielt den starken Mann." Auch der Polizeiinspekteur hat an den Einsatztagen funktioniert, seine Arbeit erledigt. Doch wenn er nach Hause kam, ging er stundenlang um den Block. Erst dann kam er zur Ruhe, konnte abschalten. Vor einigen Tagen hat Schneider sich mit den Führungskräften getroffen und noch einmal den Polizeieinsatz beim Amoklauf rekapituliert. "Es ist gut, die Rückendeckung der Chefs zu haben", sagt er.

"Bei einem Amoklauf musst du sofort handeln"

Eine richtige Vorbereitung auf ein solches Ereignis gibt es nicht. Gerüchte über Pannen und Fehler bei der Polizei mag Schneider nicht hören. Nach den Amokläufen in Erfurt oder Emsdetten hat die Polizei bundesweit neue Krisenpläne entwickelt. "Bei einem Amoklauf musst du sofort handeln", sagt Schneider.

Auch in Winnenden und Wendlingen konnten die ersten Polizeieinheiten nicht auf Verstärkung warten, sie mussten handeln. Jetzt sollen die Polizeibeamten häufiger den Ernstfall trainieren, sie bekommen bessere kugelsichere Schutzwesten und Schutzhelme.

Das Schwierigste jedoch bleibt die Einschätzung von sogenannten Trittbrettfahrern, sagt Schneider. Nach Winnenden landeten Dutzende Amokankündigungen auf seinem Schreibtisch, Drohungen, die im Internet veröffentlicht wurden oder Nachrichten auf Anrufbeantwortern. Die Polizei berät sich in solchen Fällen mit Lehrern, Psychologen, Sozialarbeitern.

"Einen Amoklauf kann man nicht verhindern"

In den Schulen wird nach neuen Präventionsmaßnahmen gesucht. "Der Amoklauf hat unseren Tagesablauf komplett über den Haufen geworfen", sagt Karin Zirenner, Leiterin der Stabsstelle Prävention und Intervention bei Gefahrenlagen des Kultusministeriums Baden-Württemberg. Die Frage, warum der 17-jährige Tim K. seine ehemalige Realschule stürmte, hat sich Zirenner immer wieder gestellt.

"Die Rektorin der Albertville-Realschule hat den bestehenden Krisenplan sofort umgesetzt - quasi schulbuchmäßig", sagt sie. "Einen Amoklauf kann man nicht verhindern. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem solchen Ereignis kommt, kann verringert werden."

Ursachen bekämpfen: Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Die Landesregierung hat bereits im März 2009 den Expertenkreis Amok gegründet. Polizisten, Psychologen, die Jugendgerichtshilfe, Pädagogen, Journalisten und Hersteller von Computerspielen sowie die Eltern der Opfer diskutierten ihre Erfahrungen, die sie durch den Amoklauf gemacht hatten. Im Oktober legte die Initiative einen Maßnahmenkatalog vor. Die Experten fordern vor allem mehr Personal, damit auffällige Schüler rechtzeitig erkannt werden.

An die hundert Psychologen arbeiten bereits an Schulen in Baden-Württemberg, 28 Beratungsstellen sind eingerichtet. "Wir brauchen deutlich mehr davon, außerdem Beratungslehrer und eine gute Zusammenarbeit mit den Eltern", sagt Zirenner. Wie wirksam die Empfehlungen der Experten sind, lässt sich nicht vorhersagen. "Die Ursachen für Amokläufe zu bekämpfen, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe", sagt Karin Zirenner.

epd