In den Fängen des Orkans: Protokoll einer Chaosreise

In den Fängen des Orkans: Protokoll einer Chaosreise
Sturmtief "Xynthia" hat in ganz Europa Chaos und Verwüstung angerichtet. In Deutschland standen die Züge still, tausende Fahrgäste strandeten. Einer davon war evangelisch.de-Redakteur Hanno Terbuyken, der auf dem Rückweg von Holland aus mit dem ICE direkt hinter der Grenze steckenblieb. Das Protokoll einer Odyssee von Holland nach Frankfurt am Main.
01.03.2010
Von Hanno Terbuyken

17.09 Uhr: Ich sitze mit meiner Freundin im Zug von Nimwegen nach Arnhem (Niederlande), der mich zum ICE International nach Frankfurt bringen soll. Auf meinem Handy läuft die Nachricht ein: Sturm über Nordrhein-Westfalen, Frankfurter Hauptbahnhof ist gesperrt. Na super, denke ich, das wird sicherlich nicht einfach, nach Hause zu kommen.

17.36 Uhr: Der ICE International hat zehn Minuten Verspätung. Kann ja mal passieren.

17.45 Uhr: Der ICE fährt ein. Wir steigen ein, vertreiben einen Menschen und seinen Koffer von unseren reservierten Plätzen und richten uns auf eine gemütliche Dreieinhalb-Stunden-Fahrt nach Frankfurt ein.

17.55 Uhr: "Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe eine schlechte Nachricht für Sie: Wegen des Sturms in Nordrhein-Westfalen endet unserer Zug heute in Wesel." Ach du Schande, das ist ja gerade mal über die Grenze! Wenigstens ist der holländische Zugchef nett und macht seine Ansagen in drei Sprachen: Niederländisch, Deutsch, Englisch. Im Zug bricht das Gewusel aus: Jeder greift zum Handy und informiert seine Angehörigen, dass er auch noch nicht weiß, wie es weitergeht. Außer mir – mein Akku ist fast alle und ich weiß, irgendwann heute werde ich das Handy noch brauchen.

Nichts geht mehr, auch nicht zurück

18.36 Uhr: Ankunft in Wesel. Gegenüber steht ein Güterzug, auch der bewegt sich keinen Meter. Wie viel Geld die Bahn wohl durch den Ausfall der Güterzüge verliert in dieser Nacht? Im ICE ist es warm und trocken, der Zugchef lässt die Raucher aus dem Zug und teilt uns dreisprachig mit, er wisse auch noch nichts. Aber er will uns auf dem Laufenden halten. Na immerhin! Wir machen es uns gemütlich. Per Telefon werden Termine abgesagt und Nachrichten eingeholt. Venlo dicht. Köln dicht. Hannover dicht. Frankfurt dicht. Die freundlich-energische blonde Schaffnerin aus Holland weiß auch nicht mehr als das.

18.50 Uhr: Der Zugchef sagt durch, dass Busse bestellt sind, die uns nach Sterkrade bringen können, wo ein Ersatzzug steht. Mit dem sollen wir dann bis Duisburg kommen. Die ersten Fahrgäste springen auf, schnell raus und weiter! Wir bleiben sitzen. Das will der Zugchef auch: "Bitte bleiben sie im Zug, ich sage ihnen Bescheid, wenn der erste Bus da ist. Wenn sie draußen stehen, können sie meine Ansagen nicht hören." Er habe zwar eine laute Stimme, aber bis in die Bahnhofshalle von Wesel reiche sie dann doch nicht.

Ich werfe einen Blick auf die Netzkarte, die im Zug hängt. Ganz Nordrhein-Westfalen soll lahmliegen? Das ist schlecht – von Wesel kommt man mit der Bahn nämlich nirgendwo anders hin als ins Ruhrgebiet. Auch die A3 ist gesperrt, verbreitet sich durch den Zug. Das ist auch schlecht, müssen da nicht die Busse lang?

19.45 Uhr: Der Zug wird immer leerer. Offenbar fahren wirklich Busse, denn wer aussteigt, kommt (bis auf einige Ausnahmen) nicht wieder. Zugchef, Schaffnerin und der Lokführer haben inzwischen alle bestätigt, dass gar nichts mehr geht auf den Schienen, wohl auch nicht zurück nach Holland. Im Bord-Bistro herrscht aufgekratzte Stimmung: Die Fahrgäste holen sich Bier und Currywurst, ein Engländer aus Yorkshire erklärt seine Probleme mit dem "ö" in der deutschen Sprache und findet Sympathie bei einer Niederländerin, die den Unterschied zwischen "ü" und "ö" schon immer verwirrend fand. Ö wie schön könn Bähnführen sön.

Ich bestelle eine Currywurst und eine Frikadelle im Brötchen für mich und meine Freundin, dafür reicht mein letztes Bargeld gerade noch. Geht das jetzt gegen mein Fasten – keine Fertiggerichte, kein Fast Food? Ich entscheide nein. Der Hunger ist stärker, und wann kriege ich heute Abend denn noch was?

Oberhausen ist auch keine Lösung

19.55 Uhr: Gerade ist die Currywurst fertig, da kommt die Durchsage des Zugchefs: "Die Busse sind jetzt da, bitte gehen sie in die Bahnhofshalle! Dieser Zug fährt zurück nach Amsterdam." Aha, ist die Strecke nun doch frei, zumindest in die andere Richtung? Ein paar Niederländer entscheiden sich, einfach sitzen zu bleiben – zurück nach Holland, dann morgen einen neuen Versuch starten. Mit dem Essen in der Hand wünschen wir ihnen eine gute Reise. Sie wünschen uns viel Glück – wir werden es brauchen.

20.10 Uhr: In Wesel ist es kalt und regnerisch. 200 Leute warten auf die Busse, der Ordnungsdienst der Bahn muss sich mit einem aggressiven Mitfahrer rumschlagen, aber ansonsten ist alles friedlich. Auch die Busse fahren jetzt ein – nacheinander schluckt jedes Fahrzeug etwa 60 Passagiere, und ab geht's nach Oberhausen. Oberhausen? Eigentlich sollten wir doch nach Sterkrade gebracht werden! Aber gut – da ohnehin niemand mehr damit rechnet, dass der Ersatzzug auch wirklich fährt, ist Oberhausen auch gut.

20.30 Uhr: Laut Fahrplan sollten wir jetzt in Frankfurt Hauptbahnhof ankommen. Stattdessen zieht rechts die Autobahnabfahrt Dinslaken-Süd vorbei. Tja.

21.10 Uhr: Oberhausen Hauptbahnhof. Vor dem Service-Schalter drängen sich etwa hundert Leute, die alle das gleiche wissen wollen: Wie geht's weiter? Und wer bezahlt mir Taxi/ Hotel/ Mietwagen/ Space Shuttle (nichtzutreffendes bitte streichen)? Ein internationaler Fahrgast der Deutschen Bahn ergeht sich in wüsten Anschuldigungen gegen den überlasteten Service-Mitarbeiter. "THIS IS UNACCEPTABLE!" schreit er. Der Bahner antwortet, es führen halt keine Züge, "and we don't have a rocket", aha, Raketen betreibt die Bahn auch nicht als Ersatzverkehr. "THEN BUILD ONE!" fordert der erboste Holländer und stürmt davon, wohin auch immer.

Der arme Service-Mitarbeiter ist nicht zu beneiden: Jeder will die Bescheinigung, dass sein Zug ausfällt, und er muss jeden Zettel per Hand ausfüllen. Über dem Service-Schalter springt die große Anzeige-Tafel um: "Zug fällt aus" klappt hinter jeder Verbindung auf. Zwei junge Männer von Europcar umkreisen den Service-Schalter wie Geier ein sterbendes Pferd.

Die Aasgeier der Deutschen Bahn

21.23 Uhr: Durch die Bahnhofshalle läuft das Gerücht, es führe ein Zug ein, ein ICE Richtung Frankfurt, aus Sterkrade. Ich rufe über mehrere Köpfe hinweg dem Service-Mitarbeiter zu: "Fährt Frankfurt wirklich?" Er sagt ja, der solle einfahren, Gleis 13.

21.25 Uhr: Eine Stampede von Fahrgästen ist zu Gleis 13 gerannt und kommt dort langsam wieder zu Atem. Neben mir steht ein Mann mit Vollbart, Schlapphut und Mantel. Er hat einen kleinen Hund im Handtaschenformat dabei, der sich fröstelnd in seine Arme schmiegt. Der Hund niest. Es kommt kein Zug.

21.45 Uhr: Eine Durchsage! "Sämtlicher Zugverkehr ist eingestellt, sie müssen ihre Weiterreise privat organisieren. Ich wiederhole…" Ja danke. Ich greife mir einen der Europcar-Menschen, jetzt reicht's, ich will nach Frankfurt. Ein Hotel in Oberhausen zu finden ist tragischer als ein finnischer Tango, wird mir ein Freund später sagen, die Idee mit dem Mietwagen ist also gar nicht schlecht.

22.15 Uhr: "Wir sind die Aasgeier der Deutschen Bahn", sagt einer der beiden Europcar-Jungs. Stimmt. Für die Autovermietungen ist der Bahnausfall ein gefundenes Fressen. Aber immerhin: So kommt man weg aus Oberhausen. Meine Freundin und ich haben auf dem Weg noch zwei andere verzweifelte Fahrgäste eingesammelt, wir wollen das Auto schließlich voll nutzen: Martin – Schriftsteller in spe, Ziel: Oberursel – und Axel – Jazzgitarren-Lehrer, Ziel: Würzburg. In einem bequemen Peugeot 407 rollen wir auf die A3, erst Richtung Köln, dann Richtung Frankfurt.

Auf dem Weg sehen wir, was "Xynthia" so angerichtet hat: Zwischendurch ist die rechte Spur gesperrt, weil Bäume vom Straßenrand wie Streichhölzer abgeknickt sind. Aber geschlossen ist die Autobahn nicht. Nur auf Höhe Wiesbaden ist Stau, aber das Navigationssystem warnt uns rechtzeitig. Zu Chopin aus dem Radio schaukeln wir durch den Taunus.

0.50 Uhr: An der S-Bahn-Haltestelle Oberursel blinken die Absperrlichter der Feuerwehr. Hier hat "Xynthia" wohl richtig zugeschlagen. Mit der Bahn wäre unser Mitfahrer Martin heute Abend nicht mehr nach Hause gekommen. Wir setzen ihn ab, dann geht es Richtung Hauptbahnhof. Axel will dort sein Glück versuchen – Würzburg ist noch weit.

1.50 Uhr: Auf dem erstbesten Parkplatz in der Nähe meiner Wohnung habe ich den Mietwagen abgestellt. Tür aufschließen, ins Bett fallen, einschlafen. "Xynthia" ist vorbei. Was ein Tag.


 

Hanno Terbuyken ist Redakteur bei evangelisch.de.