Kultureller Druck lässt jungen Türkinnen keinen Ausweg

Kultureller Druck lässt jungen Türkinnen keinen Ausweg
Identitätsprobleme, das Thema Jungfräulichkeit und häusliche Gewalt führen bei türkischen Frauen häufig zu Suizidversuchen. Die zentrale Frage ist einer Studie der Berliner Charité zufolge, ob sie in ihrer Notsituation einen Ansprechpartner finden.
16.02.2010
Von Isabel Fannrich-Lautenschläger

Yasemin Aydin (Name geändert) wurde nach einem Suizidversuch mit Tabletten in die Notfallambulanz eingeliefert. Die 27-jährige Frau aus der Türkei befand sich in einer für "Importbräute" nicht ungewöhnlichen, scheinbar ausweglosen Situation: Ihre Ehe drohte zu scheitern, die Schwiegerfamilie akzeptierte die Angeheiratete nicht, und ihrer eigenen Familie wollte sie keine Schande bereiten.

"Suizidversuche sind bei jungen türkischen Frauen in Deutschland fast doppelt so häufig wie bei gleichaltrigen Einheimischen." Bei diesem Befund stützt sich Meryam Schouler-Ocak, Oberärztin der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus, auf Studien sowie auf ihre eigene Erfahrung in der Notfallstation. Weil die Dunkelziffer noch höher liegt, überlegte die Leiterin des Berliner Bündnisses gegen Depression, wie den Frauen in Not zu helfen ist.

Ansätze dazu liefert eine dreijährige Studie, die 2009 an der Charité in Zusammenarbeit mit der Uniklinik Hamburg-Eppendorf startete. Die Untersuchung soll die Ursachen der ausgeführten und versuchten Selbsttötungen klären und die Situation der Frauen verbessern helfen.

Träume stehen in krassem Gegensatz zur hiesigen Realität

Erste Ergebnisse zeigten, dass die Probleme junger und älterer Frauen mit türkischem Migrationshintergrund sich deutlich unterscheiden. "Frauen unter 35 Jahren leiden vor allem unter dem Identitätsproblem: Bin ich Türkin oder Deutsche?", erläutert Schouler-Ocak. Sie müssen etwa den elterlich-autoritären sowie religiösen Anforderungen genügen und sollen sich keinen deutschen Mann suchen. Gleichaltrige anderer Herkunft dagegen rebellieren offen gegen ihre Eltern. "Beim Thema Jungfräulichkeit kann sich die Situation krisenhaft zuspitzen", schildert die Ärztin. "Dann scheint Suizid für die Betroffenen manchmal der einzige Ausweg zu sein."

Besondere Sorgen plagen jene Frauen, die nach Deutschland zwangsverheiratet worden sind. Sie sehnen sich häufig nach ihrer Heimat. Frühere Träume und Erwartungen stehen in krassem Gegensatz zur hiesigen Realität. Wie bei Yasemin Aydin: Vor sieben Jahren hatte die mittellose Familie ihre 20-jährige Tochter nach Deutschland verheiratet, ohne den Ehemann wirklich zu kennen. Erst in Berlin merkte Yasemin, dass ihr Mann alkoholabhängig war. Selbst als ihr Mann anfing, sie zu schlagen, hagelte es Vorwürfe von seiner Familie, ihn nicht vom Alkohol abgebracht zu haben.

"Wir müssen gegen kulturelle Barrieren angehen"

Häusliche Gewalt erleben der Studie zufolge insbesondere die Frauen zwischen 35 und 55 Jahren als großes Problem. Sie leiden nicht nur unter der Abhängigkeit von ihrem Mann, sondern auch unter finanziellen Problemen. Andere Schwierigkeiten beschäftigen dagegen die Frauen im Alter über 55 Jahren: Sie wünschen sich eine große Familie, leiden aber unter Vereinsamung. Der Gedanke, pflegebedürftig zu werden und ihren Kindern zur Last zu fallen, plagt sie. Viele fühlen sich nutzlos und ohne jede Perspektive.

Ob die Frauen in ihrer Notsituation einen Ansprechpartner finden, ist der Studie zufolge die zentrale Frage. "Wir müssen gegen kulturelle Barrieren angehen", betont Schouler-Ocak. Diese Sperren verhinderten, dass die Frauen sich im Gesundheitssystem Hilfe suchen. "Sie wissen oft nicht, an wen sie sich mit bestimmten Problemen wenden können", so die Ärztin. Außerdem fühlten sich viele Frauen unter Druck gesetzt, ihre Angelegenheiten für sich zu behalten. Erschwerend komme hinzu zudem, dass es nur wenige muttersprachliche Hilfsangebote gibt.

Aufklärungs-Offensive in Medien geplant

Um diese Widerstände zu überwinden, plant die Charité eine Aufklärungs-Offensive in den deutschen und türkischsprachigen Medien. Fast 200 "Schlüsselpersonen" der türkischen Gemeinschaft sollen als Multiplikatoren ausgebildet werden und Vereine und Beratungsstellen, Cafés und Hochzeitssalons aufsuchen. Dort können sie Frauen über Hilfsmöglichkeiten wie eine eigens eingerichtete Hotline beim Berliner Krisendienst aufklären.

Die Wirkung dieser Arbeit sollen die türkischstämmigen Frauen in Berlin selbst beurteilen. Sie werden über einen längeren Zeitraum drei Mal interviewt. Dann werde sich zeigen, ob sich etwas ändert für Frauen wie Yasemin Aydin. Deren Entschluss steht fest: Sie will sich von ihrem Mann trennen. Die eigene Familie in der Türkei weiß davon noch nichts.

dpa