Kirche und Kultur: Liebe auf den zweiten Blick

Kirche und Kultur: Liebe auf den zweiten Blick
Vier Lastzüge kippen 100 Tonnen feinen Sand vor das Portal der historischen St.-Stephani-Kirche in Bremen. Aus dem Material formen Künstler unter dem Dach des hoch aufragenden evangelischen Kirchenschiffs eine mächtige Pyramide, die Kinder später wieder zerstören. Mit dieser spektakulären Aktion nahm Nordwestdeutschlands erste Kulturkirche vor drei Jahren ihre Arbeit auf. Mittlerweile ist St. Stephani etabliert und gehört zu den ersten Adressen im deutschen Protestantismus, wenn es um den Dialog zwischen Kirche und Kultur geht.
23.12.2009
Von Dieter Sell

"Kirche und Kultur sind für mich wie Schwestern, die sich innig lieben, aber auch heftig zanken können", sagt die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Margot Käßmann. Ein zuweilen schwieriges Verhältnis also, eher eine Liebe auf den zweiten Blick, die nach Auffassung der hannoverschen Landesbischöfin aber durchweg befruchtend ist. "Dazu braucht es Orte, an denen sich Kirche und Kultur in Freiheit begegnen. Dann können sie sich stärken und Neues erproben."

Videoinstallation schickt Delfine durch das Kirchenschiff

St. Stephani ist ein solcher Ort. Wie viele es bundesweit gibt, darüber wird keine exakte Statistik geführt. Aber mehr als 250 sollen es nach Angaben der EKD schon sein. Bremen ragt mit einer kleinen Anzahl anderer Projekte hervor, weil hier nicht nur ein Raum vermietet wird. Mit etlichen Kooperationspartnern hat Kulturpastor Louis-Ferdinand von Zobeltitz (64) seit dem Start ein eigenes Programm mit mehr als 200 Veranstaltungen inszeniert: Musik, Tanz, Theaterpredigten, Filme, Ausstellungen, Gottesdienste, Lesungen, alles zusammen mit fast 57.000 Besuchern.

Gerade schickt eine Videoinstallation der kalifornischen Multimedia-Künstlerin Diana Thater riesige Bilder von Delfinen durch das Kirchenschiff und verwandelt es in eine bunte Unterwasserwelt. "Es geht nicht darum, christliche Wahrheiten mit ästhetischen Botschaften zu untermalen", bekräftigt Zobeltitz, der nun in den Ruhestand geht. Er will eine Auseinandersetzung mit den Künstlern, "mit denen, die in unserer Gesellschaft am quirligsten sind, die sich in die Zukunft ausstrecken". St. Stephani habe sich zu einem Brückenkopf für diesen Dialog entwickelt: "Das trägt Früchte für die gesamte Kirche."

Zobeltitz: Künste sind Lebenselixier

Auch das Interesse der Kulturschaffenden ist groß. Viele schätzen die ruhig-kontemplative Atmosphäre, die der fast 900 Jahre alte Innenraum von St. Stephani vermittelt. Hier und in anderen großen Kulturkirchen wie etwa in Berlin, Stuttgart und Köln geben sie den Besuchern die Möglichkeit, sich konzentriert mit Kunst zu beschäftigen. "Wir haben keine Mühe, Ausstellungen in die Kirche zu bringen - von zehn Interessenten müssen wir neun absagen", bilanziert Zobeltitz.

Für die Arbeit mit Künstlern braucht die Kirche nach Auffassung der EKD-Kulturbeauftragten Petra Bahr Sinn für Experimente: "Und den festen Glauben, dass das Christentum im spannungsreichen Dialog mit den Künsten Lebenskräfte entfaltet, die sonst verborgen bleiben." Bahr, die in der Kultur "kein Luxus, sondern Lebensmittel" sieht, betont Gemeinsamkeiten: Wie eine Predigt zeigten Kulturkirchen, dass in den Künsten existenzielle Fragen wie Armut, Klima und Gerechtigkeit Thema seien.

Für den Theologen Zobeltitz, der sein Amt nun an den Osnabrücker Pastor Achim Kunze (54) weitergibt, sind die Künste ein Lebenselixier, ähnlich wie die biblische Botschaft. Kunst und Kirche sind für ihn seelenverwandt, haben für ihn etwas Prophetisches: "Sie öffnen uns das Verständnis, dass Gott in den Kleinen mächtig ist, dass Gnade und Barmherzigkeit einen längeren Atem haben als Macht, Gewalt und Geld, dass sich die Seele nicht an Reichtum erfreut, sondern an der Schönheit der Schöpfung und der Liebe."

epd