Kann eine Kopfpauschale sozial sein?

Kann eine Kopfpauschale sozial sein?
Gesundheitsminister Rösler will die gesetzliche Krankenversicherung umkrempeln. So soll der Beitrag künftig nicht mehr vom Einkommen abhängen. Die Opposition beschwört das Ende des Solidarsystems. Was stimmt nun? Kann eine Kopfpauschale sozial sein? Oder weiter gefasst: Kann es einen liberalen Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit geben?
12.11.2009
Von Ulrich Pontes

Gegen den geschlossenen Widerstand der Opposition will Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) die gesetzliche Krankenversicherung umkrempeln. Bei seiner Antrittsrede im Bundestag verteidigte der Minister am Donnerstag die vom Koalitionsvertrag vorgesehene Festschreibung des Arbeitgeberbeitrags und eine Umstellung des Beitragssystems auf eine feste Prämie pro Person, unabhängig vom Einkommen. Notwendig sei eine Entkoppelung der Krankenversicherungskosten von den Lohnzusatzkosten, damit, so Rösler, steigende Gesundheitskosten nicht automatisch den Faktor Arbeit belasten und zu mehr Arbeitslosigkeit führen.

Über Beiträge einen Solidarausgleich anzustreben, wie es bislang in den gesetzlichen Kassen durch den prozentualen Beitragssatz teilweise umgesetzt wird, hält Rösler für wenig zielführend: "Der Ausgleich zwischen Arm und Reich, den halten wir in der Gesundheitsversicherung für wenig treffsicher, und deswegen für sozial ungerecht." Damit begründete Rösler die Pläne einer für alle gleichen Kassenpauschale. Der soziale Ausgleich müsse stattdessen übers Steuersystem geschehen - weshalb Einkommensschwachen bei der Kassenpauschale auch aus Steuermitteln unter die Arme gegriffen werden soll.

Heftige Diskussion auf evangelisch.de

Trotzdem erscheint ein fester Beitrag pro Person, eine Kopfpauschale also, vielen als denkbar unsozial. Das zeigen beispielsweise die Nutzerkommentare, die der Gastbeitrag "Dem liberalen Weg zu Gerechtigkeit eine Chance geben" auf evangelisch.de ausgelöst hat. Darin plädierte der Berliner Volkswirtschafts-Professor Gert G. Wagner dafür, den Koalitionsvertrag nicht sofort als unsozial zu verdammen, sondern der neuen Regierung - und damit unter anderem den Plänen für eine Kopfpauschale bei der Krankenversicherung - eine Chance zu geben.

[linkbox:nid=5371;title=Der umstrittene Kommentar zum Koalitionsvertrag]

"Man sollte dem liberalen Weg zu Gerechtigkeit fairerweise eine Chance geben", hatte Gert G. Wagner selbst über seinen Beitrag geschrieben (was von der Redaktion dann auf den genannten Titel verkürzt wurde). Darin klang schon an, dass der Autor den Vorhaben der Koalition mit einiger Distanz gegenübersteht. Viele Leser empfanden den Gastbeitrag dennoch als "neoliberal" und reagierten enttäuscht bis wütend, zumal Gert G. Wagner ihn nicht als irgendein Experte, sondern als Vorsitzender der "Kammer für soziale Ordnung" der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) verfasst hatte.

Anlässlich der nun wieder auflebenden Diskussion um die Gesundheitspläne sollen im Folgenden einige Fragen vertieft werden, die der Gastbeitrag und die Kommentare dazu aufwarfen.
 

Kann eine Kopfpauschale sozial sein? Wie wäre das möglich?

Viele Experten stimmen darin überein, dass die Sozialverträglichkeit einer Kopfpauschale von den Details abhängt - und diese sind noch nicht festgelegt. Natürlich bedeutet die Grundidee - eine fixe Beitragssumme pro Versichertem - das Gegenteil von sozialem Ausgleich. Wenn aber ein steuerfinanzierter Ausgleich hinzukommt, bietet das auch Chancen für mehr soziale Gerechtigkeit. Das sieht nicht nur der FDP-Gesundheitsminister so.

Gert G. Wagner erklärt den Grundgedanken: "Sozialer Ausgleich sollte über progressive Steuern, also die Einkommensteuer, finanziert werden." Denn die Einkommenssteuer greife bei allen Einkunftsarten und steige sogar im prozentualen Satz, je höher die Einkünfte ausfallen - Sozialversicherungsbeiträge fallen indes nur auf Arbeitseinkommen an. Außerdem, so Wagner, böten sich mit der Kopfpauschale neue Chancen, auch Beamte und Privatversicherte zum sozialen Ausgleich heranzuziehen. Diese tragen zum derzeitigen gesetzlichen Sozialversicherungssystem gar nicht bei. (Zu diesen Themen hat sich die Evangelische Kirche übrigens umfassend in dem EKD-Text "Solidarität und Wettbewerb: Für mehr Verantwortung, Selbstbestimmung und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen" geäußert http://www.ekd.de/EKD-Texte/ekd_text_74_1.html)
 

Was heißt: Sozialer Ausgleich ist "vorgesehen"?

"Kommt er nun oder kommt er nicht, der soziale Ausgleich?" wurde in Kommentaren zu Gert G. Wagners Beitrag zurückgefragt. Schwarz-Gelb lässt diese Frage im Koalitionsvertrag faktisch offen, weil keine Details genannt werden. Diese sollen erst von einer aus Politikern und Wissenschaftlern bestehenden Regierungskommission ausgearbeitet werden. Medienberichten zufolge drückt der neue Gesundheitsminister hier aufs Tempo und will dieses Gremium noch in diesem Jahr einsetzen.

Gert G. Wagner plädiert aus den oben genannten Gründen dafür, offen für eine Änderung zu sein: "Die Chance auf eine sozial sinnvolle Lösung durch eine Veränderung des bisherigen Systems sollte nicht leichtfertig vergeben werden." Dabei sei allerdings auch Einsatz gefragt: "Je mehr dafür von gesellschaftlichen Gruppen (wie der EKD) und Parteien gekämpft wird, um so eher kommt der soziale Ausgleich."

Etwas weniger hoffnungsfroh hat es IG-Metall-Chef Berthold Huber formuliert: "Die Vereinbarungen zum Beispiel zur Gesundheitspolitik sind sozialer Sprengstoff, den die FDP gelegt hat." Aber auch er gesteht zu, dass das Ergebnis noch offen ist: "Ob er zündet, wird sich wohl erst nach der Wahl in NRW erweisen."
 

Wäre ein sozialer Ausgleich nicht am einfachsten zu erreichen, indem man die Beitragsbemessungsgrenze abschafft?

Es scheint verlockend: Wenn jeder, egal wie hoch das Einkommen, einen festen Prozentsatz davon an Beitrag zahlt, dann würden doch die Reichsten auch am meisten zahlen. Dass dies theoretisch stimmt, dem pflichtet auch Gert G. Wagner bei. Aber eben nur theoretisch: Zum einen dürfe ein Versicherungsbeitrag aus grundsätzlichen rechtlichen Erwägungen nicht wie eine Steuer wirken. Vielmehr müsse eine Relation zur Leistung gewahrt bleiben - das würde ohne Beitragsgrenze schwierig, weil dann die Beiträge ja beliebig hoch werden könnten.

Aber wichtiger noch: Letztendlich wäre ein solches Beitragssystem in der Praxis doch nicht sozial gerecht, wie Wagner erläutert: Erstens fehlt ihm im Vergleich zum Steuersystem die Progression. Bei der Einkommensteuer gilt ja kein einheitlicher Prozentsatz, sondern mit steigendem Einkommen wächst der prozentuale Anteil, der abgeführt werden muss - Reichere zahlen also sogar überproportional viel. Zudem würde eine Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze Vielverdiener in die Privatversicherung drängen, wo sie dann erheblich günstiger wegkämen.
 

Wie kann es einen "sozialen Ausgleich über einen Umweg der Entlastung der Besserverdienenden und einer Entbürokratisierung" geben?

Diese Formulierung verwendete Gert G. Wagner in seinem Kommentar. Wir haben ihn gebeten, das scheinbare Paradox - in einem Nutzerkommentar gar als "unfreiwillige Satire" bezeichnet - zu erläutern. Wagner schreibt: "Wenn die Arbeitslosigkeit aufgrund des 'liberalen Weges' sinkt, ist das der größtmöglich vorstellbare soziale Ausgleich."
 

Aber kann denn eine liberalere Politik zu mehr Arbeitsplätzen führen? Zeigt nicht die Vergangenheit (die letzten 20 Jahre) das Gegenteil?

Zu dieser Frage gibt es widersprüchliche Meinungen. Wirtschaftsverbände loben etwa, dass der Koalitionsvertrag Lohnnebenkosten begrenze, durch Korrekturen an Unternehmens- und Einkommenssteuer dem Mittelstand helfe, durch Technologieförderung Deutschland als Industriestandort stärke und durch den Verzicht auf Mindestlöhne ein Hemmnis für die Schaffung von Arbeitsplätzen vermeide. All dies hat nach Überzeugung der Wirtschaftsvertreter - und mancher Konjunkturforscher - auch positive Effekte auf den Arbeitsmarkt.

Andere Experten sehen das anders. Der Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD etwa, Gerhard Wegner, gibt angesichts möglicherweise entstehender Arbeitsplätze zu bedenken: "Die Frage ist, was für Arbeitsplätze das sind!" Die Koalition wolle ja etwa keine Mindestlöhne. Voraussichtlich würden vor allem unsichere und sehr schlecht bezahlte Arbeitsplätze entstehen. Wegner: "Die Frage ist, ob das zu dem führt, was wir uns unter Förderung von Teilhabe vorstellen." Außerdem bestehe die Gefahr, dass die Entlastung mittlerer und höherer Einkommen gerade nicht zu mehr Konsum und somit mehr Wachstum und Arbeit führe (siehe auch Interview mit Gerhard Wegner).

Auch Gert G. Wagner ist durchaus skeptisch, ob eine liberalere Politik die erhofften Auswirkungen am Arbeitsmarkt haben wird: "Vieles spricht tatsächlich dafür, dass liberalere Politik nicht zu mehr Arbeitsplätzen führt", so der Volkswirtschaftler. Wirklich wissen könne es im Vorhinein aber eben niemand. Deshalb sei die Frage, ob man darauf setzt oder nicht - und genau diese Entscheidung hätten die Wähler bei der Bundestagswahl treffen müssen. Mit dem Ergebnis, dass eine Mehrheit für den liberalen Weg zustande kam.
 

Wenn eine Kopfpauschale so sozial ist, kommentierte ein Nutzer, dann sollte man doch die Kirchensteuer auch zu einer Kopfpauschale weiterentwickeln. Oder?

Derzeit ist die Kirchensteuer analog zur Einkommensteuer progressiv an die Einkünfte gekoppelt - "das finden wir gerecht, das will keiner ändern", betont Gerhard Wegner vom Sozialwissenschaftlichen Institut. Auf diese Weise sei bei der Kirchensteuer der soziale Ausgleich bereits eingebaut, der bei der Krankenversicherung bislang fehlt (siehe oben). Umgekehrt plädiert ja auch Gesundheitsminister Rösler dafür, sozialen Ausgleich über das Steuersystem zu schaffen, weil dieses dafür am besten geeignet sei.
 

Was ist und wie funktioniert die Kammer für soziale Ordnung?

Den Artikel "Dem liberalen Weg zu Gerechtigkeit eine Chance geben", seinen Kommentar zum Koalitionsvertrag, schrieb Gert G. Wagner als Vorsitzender der Kammer für soziale Ordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Diese und andere Kammern (etwa für Theologie oder für öffentliche Ordnung) erarbeiten Stellungnahmen zu Themen aus ihrem jeweiligen Sachgebiet. Sie setzen sich aus Experten und Repräsentanten verschiedener gesellschaftlicher Akteure zusammen, die der Rat, also das oberste Leitungsgremium der EKD, für diese Aufgabe beruft.

Damit ist die Arbeit der Kammern an die Amtsperiode des Rats der EKD geknüpft. Mit der Wahl und Einführung eines neuen Rats Ende Oktober ist somit auch die bisherige Sozialkammer, deren Vorsitzender Gert G. Wagner war, automatisch aufgelöst. Der neue Rat wird demnächst die Mitglieder einer neuen Sozialkammer berufen - dabei kann es sich aber durchaus auch um Mitglieder der bisherigen Kammer handeln.

Ein über Gert G. Wagners Gastbeitrag verärgerter Nutzer schlug vor, als Protest aus der Kirche auszutreten - mit ausbleibenden Kirchensteuern würde die EKD dann auch "Pöstchen" wie die des Vorsitzenden der Sozialkammer streichen. Das ist allerdings wenig aussichtsreich: Die Tätigkeit in der Sozialkammer ist rein ehrenamtlich - also nicht bezahlt.

Mit Material von dpa