"Menschen sind bereit zu helfen"

"Menschen sind bereit zu helfen"
Renate Lutz leitet das Diakoniezentrum WESER5, das in Frankfurt Obdachlose betreut. Im Interview berichtet sie von Erfolgsgeschichten, den schwierigen Umgang mit psychisch kranken Menschen und warum in einem reichen Land wie Deutschland überhaupt noch Menschen auf der Straße landen.
10.11.2009
Von Henrik Schmitz

evangelisch.de: Welche Menschen sind in unserer Gesellschaft besonders von Obdachlosigkeit bedroht?

Renate Lutz: In der Regel sind es Menschen, die eine Vielfalt an Problemen haben: Suchtprobleme, Überschuldung oder familiäre Probleme, die zu einer Trennung vom Partner geführt haben. Viele Obdachlose stammen auch aus zerrütteten Familienverhältnissen, sind z.B. in Kinderheimen groß geworden. Zunehmend sind aber auch Menschen von Obdachlosigkeit betroffen, die jahrelang bürgerlich stabil gelebt haben und durch Schicksalsschläge in eine Situation geraten sind, mit der sie allein nicht fertig geworden sind und niemanden hatten, der sie auffängt.

evangelisch.de: In Deutschland hat jeder Bürger das Recht auf Sozialleistungen. Eigentlich muss doch niemand mehr auf der Straße leben.

Lutz: Viele Menschen scheitern daran, von sich aus Hilfe in Anspruch zu nehmen. In Frankfurt ist es zum Beispiel so, dass das Sozialrathaus Menschen anschreibt, deren Wohnung geräumt wird. Sie werden dann aufgefordert, sich zu bestimmten Sprechzeiten zu melden, um die Situation zu klären und Hilfe zu erhalten. Es gibt aber Menschen, die sind in einer solchen Situation so gelähmt, dass sie es einfach nicht schaffen, sich zu melden. Sie warten, bis der Lkw anrollt und die Wohnung geräumt wird. Dann sitzen sie auf der Straße.

evangelisch.de: Was könnte man denn tun, um solchen Menschen zu helfen?

Lutz: Die vorhandenen Beratungsstellen müssten frühzeitig einbezogen werden und es müsste jemanden geben, der diese Menschen direkt aufsucht und es nicht bei einem Brief belässt. Dies ist in unserem System momentan aber nicht vorgesehen. Wir erfahren von der Situation der Menschen erst, wenn sie zu uns kommen. Erst dann können wir helfen. Die Obdachlosigkeit ist dann aber schon eingetreten.

evangelisch.de: Auf der einen Seite also ein Kommunikationsproblem und auf der anderen Seite ein finanzielles?

Lutz: Es gibt im Sozialrathaus in Frankfurt Fachstellen zur Verhinderung von Wohnungslosigkeit. Dort sind je nach Stadtteil ein bis zwei Mitarbeiter eingestellt. Der Arbeitsaufwand ist aber offenbar so hoch, dass sie die Menschen nicht persönlich aufsuchen können. Ich gehe also davon aus, dass es tatsächlich auch ein finanzielles Problem ist.

evangelisch.de: Es gibt aber vielleicht auch Menschen, die gern auf der Straße leben und gar nicht in eine Wohnung möchten.

Lutz: Das findet man manchmal bei Menschen, die sehr lange draußen gelebt haben und zum Teil Phobien entwickelt haben. Sie ertragen keine Wände und Decken mehr um sich. Es handelt sich dann aber um psychische Erkrankungen. Ich gehe davon aus, dass kein Wohnungsloser die Obdachlosigkeit wirklich freiwillig gewählt hat. Es sind die Lebensumstände, die zur Obdachlosigkeit geführt haben und die auch dazu führen, dass so ein Mensch nicht zurück in eine Wohnung möchte.

evangelisch.de: Welche Probleme ergeben sich für Sie in der Arbeit mit Obdachlosen?

Lutz: Tatsächlich ist der Umgang mit psychisch kranken Menschen schwer, die man kaum erreichen kann, solange sie sich nicht behandeln lassen. Solange die Menschen in ihrem Krankheitsbild leben betrachten sie uns oft als Feinde, ein vertrauensvolles Gespräch findet nicht statt. Erst eine ärztliche Versorgung führt dann dazu, dass ein Mensch wieder geordnet denkt und sich auf Dinge einlassen kann, die in unserer Welt vielleicht als „normal“ bezeichnet werden.

evangelisch.de: Gab es auch Fälle, in denen Sie Menschen haben einweisen lassen, um ihnen zu helfen?

Lutz: Wir kennen einige Obdachlose, die wir seit Jahren betreuen und die sehr krank sind. Sie schlafen selbst bei eisigen Temperaturen im Freien und wir haben jeden Winter aufs Neue Bedenken, dass sie eine kalte Nacht nicht überstehen. Wir haben in solchen Fällen mehrfach Polizei und Ordnungsamt eingeschaltet. Was dann passiert, ist, dass ein Richter hinzugerufen wird, der über eine Einweisung entscheiden muss. Wenn der Obdachlose aber nicht freiwillig in eine Klinik gehen will, erfolgt eine Einweisung nur dann, wenn der Richter den Eindruck hat, dass der Obdachlose wirklich verwirrt ist und seine Lage überhaupt nicht mehr einschätzen kann, sich oder andere gefährdet. Wir haben einen Klienten, der im Grunde vollkommen durcheinander ist, aber vollkommen klar wirkt, sobald ein Richter oder Polizist vor ihm steht. Er wird aufgrund des momentanen Eindrucks nicht eingewiesen und bekommt leider keine Behandlung, die ihn in die Lage versetzen würde, tatsächlich über sich selbst nachzudenken.

evangelisch.de: Wie hilft Ihre Einrichtung, WESER5, den Obdachlosen konkret?

Lutz: Wir haben insgesamt fünf Angebote. Dazu zählt zunächst einmal eine Kollegin, die tatsächlich auf die Straße geht und die Obdachlosen dort anspricht. Sie baut Kontakt auf und versucht, die Menschen an Hilfen heranzuführen. Zum Beispiel hilft sie, Leistungen zum Lebensunterhalt zu beantragen oder sorgt für einen Platz in der Notunterkunft. Ein weiteres wichtiges Angebot ist unsere Tagesstätte. Hier können die Obdachlosen alles tun, was sie sonst in einer Wohnung tun würden: Duschen, Kleidung waschen, sich ausruhen und Gepäck aufbewahren. In unserer Beratungsstelle führen wir mit den Obdachlosen Gespräche und helfen bei Problemen im Alltag. In unserer Notunterkunft können Wohnungslose bis zu zehn Tage übernachten, in dieser Zeit schauen wir, welche weiteren Hilfen der Obdachlose braucht. Eventuell kann er dann in unser Wohnheim mit 39 Plätzen gehen, wo die Wohnungslosen vorübergehend betreut und begleitet werden. Im Wohnheim werden verschiedene Probleme aufgearbeitet. Was hat zur Wohnungslosigkeit geführt und welche Probleme stehen auch in Zukunft im Wege? Im Idealfall bekommt der Wohnungslose dann am Ende eine eigene Wohnung und eine Arbeit, wobei letzteres immer schwieriger wird.


evangelisch.de: Welche besonderesn Erfolgsgeschichten haben Sie erlebt?

Lutz: Es gibt viele Menschen, die ich da benennen könnte, für die sich durch uns neue Perspektiven aufgetan haben. Ein Beispiel ist ein Mann, der 25 Jahre lang im Wald gelebt hat. Er war sehr scheu und hatte sich dort versteckt. Wir kannten seine Bleibe und haben ihn zunächst regelmäßig besucht. Ein erster Erfolg war, dass er aus dem Wald gekommen ist und uns in der Beratungsstelle besucht hat. Wir haben dafür gesorgt, dass er jeden Monat vom Sozialamt seine Grundsicherung erhalten hat. In mühevoller Arbeit konnten wir dann erreichen, dass er aus dem Wald in die Notunterkunft gezogen ist. Er war dort nach 25 Jahren wieder in Kontakt mit anderen Menschen und hat erfahren, dass er so angenommen wird, wie er ist. Er blieb dann solange in der Notunterkunft, bis er schließlich bereit war, in eine Wohnung zu gehen. Dort besuchen wir ihn noch regelmäßig. Er kocht dann einen Kaffee und freut sich.

evangelisch.de: Ich habe den Eindruck, es gibt inzwischen mehr obdachlose Frauen als früher. Beobachten Sie das auch bei ihrer Arbeit?

Lutz: Es gab schon immer obdachlose Frauen. Es ist nur so, dass sie früher weniger wahrgenommen wurden. Frauen versuchen ihre Obdachlosigkeit zu verbergen und achten meist mehr auf Körperpflege und Kleidung als Männer. Allerdings war es auch so, dass Frauen sich auf Beziehungen eingelassen haben, um nicht obdachlos zu werden. Da hat sich in der Tat etwas geändert. Heute sieht man mehr Frauen auf der Straße leben, verwahrlost und betteln. Das sind auch oft ältere Frauen, die in die Wohnungslosigkeit geraten sind und keine sozialen Bindungen mehr hatten.

evangelisch.de: Sie arbeiten in einem Bereich, der die Schattenseiten unserer Gesellschaft zeigt. Was macht Spaß an ihrem Beruf?

Lutz: Ich habe über den zweiten Bildungsweg Sozialarbeit studiert und war früher Chemielaborantin. Das war für mich vollkommen sinnentleert. Ich wollte mich um Menschen kümmern, die ganz unten angekommen sind. Das ist eine wichtige Arbeit, die getan werden muss. Sie ist allerdings gesellschaftlich nicht so anerkannt. Ein Pädagoge in der Kinder- und Jugendarbeit hat mehr Ansehen als ein Pädagoge in der Wohnungslosenhilfe.

evangelisch.de: Ich habe den Eindruck, die Gesellschaft unterliegt einem steten Wandel der Werte. Es gibt Zeiten, in denen das Soziale stärker betont wird und es gibt Phasen, in denen der Individualismus stärker verbreitet ist. Wo stehen wir aktuell?

Lutz: Es gab und gibt immer Menschen in der Gesellschaft, die über Obdachlose sagen: "Die sollen doch arbeiten gehen". Und es gibt Menschen, die damit reflektierter und sensibler umgehen und sagen: "Das könnte mir auch passieren." Ich beobachte derzeit, dass es sehr viele Menschen gibt, die bereit sind, zu helfen. Es melden sich viele Menschen bei mir, die sich ehrenamtlich betätigen wollen.
 

Internet: WESER5


Henrik Schmitz ist Redakteur für Medien und Kultur bei evangelisch.de.