70.000 Möglichkeiten für mehr Menschlichkeit

70.000 Möglichkeiten für mehr Menschlichkeit
Eigentlich wird ja nur die Wehrpflicht verkürzt, der Zivildienst ist nur ein Opfer am Rande. Dennoch schlägt die Verkürzung des Ersatzdienstes größere Wellen als die kürzere Soldatenzeit, Hinweis darauf, dass der Zivildienst doch mehr ist als nur ein Ersatzdienst. Darüber hinaus erfüllt er eine wichtige gesellschaftliche Funktion.
03.11.2009
Von Hanno Terbuyken

Jetzt ist es endgültig so weit: Die von der Regierung angestrebte Verkürzung der Wehrpflicht auf sechs Monate ruiniert den Zivildienst. Der Paritätische Wohlfahrtsverband setzt mit seiner Ankündigung, bei einer kürzeren Dienstzeit auf Zivis zu verzichten, ein deutliches Zeichen. Es ist kein gutes Omen, denn der Zivildienst ist eine erhaltenswerte Institution – wenngleich vielleicht nicht in der Form, in der er heute existiert.

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Ich war selbst einmal Zivildienstleistender. Neun Monate Dienst auf der Kinderstation im regionalen Krankenhaus bei uns in der Stadt, das hieß alles mögliche: früh aufstehen, Babyflaschen waschen, Babys wickeln, Räume desinfizieren, Betten machen, Einläufe, Stuhlproben, Botengänge, Essen verteilen, mit Kleinkindern spielen, Jugendlichen Mut machen und in einem besonderen Fall auch eine Begegnung, die ich mein Lebtag nicht vergessen werde.

Wichtiger Dienst am Menschen

Eines Tages kam ein Junge, 14 Jahre alt, bei uns auf die doch recht beschauliche Station, den meine Kolleginnen (ausschließlich Frauen übrigens) schon kannten. Er litt an einer Muskeldystrophie, saß im Elektrorollstuhl und wurde über eine Atemhilfe mit zusätzlichem Sauerstoff versorgt. Geistig wach konnte er zwar seine Situation reflektieren, aber trotzdem nichts daran ändern. Bei jeder Bewegung des Kopfes, jeder Veränderung der Liegeposition, auch bei jeder für uns unwillkürlichen Bewegung, brauchte er Hilfe. In den Tagen, in denen er bei uns war, war der einzige, der die Zeit hatte, sich länger als nur für die Pflege nötig mit ihm zu beschäftigen, der Zivi – ich.

Genau dafür sind Zivildienstleistende wichtig: Den Dienst am Menschen zu leisten, den eine reguläre Arbeitskraft in einer regulär besetzten – und damit typischerweise an Personalmangel leidenden – Pflegeeinrichtung nicht leisten kann. Denn laut Vorschrift soll ein Zivildienstplatz keinen regulären Arbeitsplatz ersetzen. Das mag manchmal anders sein, aber in den meisten Fällen machen Zivildienstleistende ihren Mangel an Ausbildung durch zwischenmenschlichen Einsatz wett. Etwa 70.000 Zivildienstplätze, das sind fast zwei Drittel (65 Prozent), lagen 2008 nach Angaben des Bundesamtes für den Zivildienst in den Bereichen Pflegehilfe und Betreuungsdienste einschließlich Schwerstbehindertenbetreuung. Das sind 70.000 Möglichkeiten für Menschlichkeit, die der Arbeitsmarkt wohl nicht auffangen wird.

Diesmal ist weniger nicht mehr

Das ist die Bedeutung des Zivildienstes für die Pflegeeinrichtungen und ihre Patienten. Es gibt aber auch die andere Seite, nämlich die Bedeutung des Dienstes für den Einzelnen. Gerade die, die in der Pflege ihren Dienst leisten, lernen in dieser Zeit Verantwortung für andere zu übernehmen. Zivis lernen Respekt vor hilfs- und pflegebedürftigen Menschen und damit auch ein bisschen Nächstenliebe. Zugleich ist es auch ein Einblick in die Arbeitswelt, der zumindest Abiturienten fehlen wird, wenn sie gleich nach der Schule für den Bachelor studieren gehen. Zivis lernen also, ein verantwortungsvoller Teil der Gesellschaft zu sein.

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Bei der Bundeswehr ist die Rede vom "Staatsbürger in Uniform". Warum ist dann beim Wehrersatzdienst nicht die Rede vom "Staatsbürger"? Die Verantwortung des einzelnen für das Gemeinwesen ist eine der wichtigsten Stützen unserer Gesellschaft, aber schon jetzt leisten immer weniger Menschen einen Staatsdienst ab, sehen darin möglicherweise sogar verschwendete Zeit. Statt immer kürzer und immer weniger müsste die Antwort lauten: Mehr Dienst – zivil, sozial, kulturell, ökologisch – für mehr Menschen, abgekoppelt von der Wehrpflicht, vielleicht sogar für alle. Das wäre jedenfalls ein Weg, gemeinschaftliche Verantwortung wieder auf breitere Füße zu stellen. Denn der Zivildienst und die Freiwilligendienste sind zusammen längst mehr als nur die vorgeschriebene Alternative für Kriegsdienstverweigerer. Die Wohlfahrtsverbände würde es freuen.


 

 Hanno Terbuyken ist Redakteur bei evangelisch.de, zuständig für die Ressorts Gesellschaft und Wissen.